Es ist Ferienende und Justin Calmar macht sich von Venedig aus allein mit dem Zug auf den Heimweg nach Paris. Seine Familie wird ein paar Tage später nachkommen. Ein Mitreisender verwickelt Calmar in ein Gespräch und fragt ihn intensiv aus. Calmar wird sich seiner Geschwätzigkeit bewusst, aber als ihn sein Gegenüber um einen Gefallen bittet, schlägt er ein. In Lausanne hat er beim Umsteigen einen zweistündigen Aufenthalt und soll bei der Gepäckaufbewahrung einen kleinen Koffer abholen. Der müsse, so erklärt ihm der Fremde, gleich um die Ecke zu einer gewissen Arlette Staub bringen. Kurz danach verschwindet der Unbekannte. Calmar macht die Geschichte leicht unbehaglich, aber er macht sich auf den Weg. Arlette Staub jedoch liegt tot in ihrer Wohnung – erschlagen. Von Panik ergriffen, flieht er nach Paris, wo er zu seinem Entsetzen feststellt, dass der Koffer ein Vermögen enthält.
Bis zur letzten Seite habe ich mitgefiebert, ein Buch, das schwer aus der Hand zu legen war. Simenon macht aus einer kleinen Gefälligkeit, die Justin Calmar einem Mitreisenden gewährt, ein gefährliches Roulettespiel. Calmar erfüllt diesen einen Wunsch, obwohl er sich peinlich berührt fragt, wie es eigentlich dazu kommen konnte. Die anerzogene Höflichkeit in Gesprächen wusste der Mitreisende geschickt auszunutzen. Umgekehrt erfährt Calmar nichts von seinem Gegenüber und er traut sich auch nicht, danach zu fragen. Mit herben Folgen, denn Calmars Leben gerät infolge langsam aber sicher aus den Fugen.
Ein Spinnennetz aus Ausflüchten
Bestens gefällt mir, wie nachvollziehbar die Gewissensbisse geschildert werden. Calmar weiß sich vor niemandem zu erklären oder zu rechtfertigen und isoliert sich mit seiner Geschichte. Eine Ausrede ergibt die nächste und er strickt ein immer engeres Netz um sich. Er begreift, dass er in einer Lebensroutine steckt, die ihm keine Möglichkeiten für eigene Wege bietet. Selbst ein leicht vorgezogener Dienstschluss – völlig ungewohnt beim sonst so diensteifrigen Kollegen – bringt die Gerüchteküche zum Kochen. Vor seiner Frau verbiegt er sich förmlich, um keinen Argwohn zu hegen. Selbst die hart umkämpfte Ausrede gerät, obwohl pfiffig und schlüssig erklärend, zum ehelichen Eiertanz. Was bisher einen sicheren Rahmen ergab, droht ihn nun zu ersticken. Wie soll er sich retten?

Auf der bereits erwähnten letzten Seite allerdings platzte ein Ende herein, das mir irgendwie nicht so recht zu passen schien. Als ob die Geschichte beendet werden musste, weil alles andere so lang geraten wäre wie die Vorgeschichte dazu. Auch zu Calmar schien mir das Ende ganz und gar nicht zu passen.
Bibliografische Angaben
Verlag: Diogenes
ISBN: 3257216173
Originaltitel: Le train de Venise
Erstveröffentlichung: 1965
Deutsche Erstveröffentlichung: 1968
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