
Die tragische Nachricht erreicht Nora per Handy, als sie gerade mit einer Freundin deren neues Stipendium feiert. Ihr Vater Driss wurde nachts vor seinem Diner angefahren und getötet, der Fahrer verschwand spurlos. Sie kehrt in ihre Heimatstadt in der Mojave Wüste zurück, um ihrer Mutter und Schwester Salma zu helfen. Als Nora mehr über den Hergang erfährt, zweifelt sie an der Unfalltheorie. Sie bleibt, quartiert sich in Vaters einsamer Wüstenhütte ein und versucht, mit der Trauer und den Zweifeln zurecht zu kommen. Ihr alter Schulfreund Jeremy arbeitet inzwischen als Sheriff und hilft ihr, wo er kann. Und dann kommt der Tag, als ein Anruf in der Hütte das Bild vom eigenen Vater über den Haufen wirft.
Im Haus von Familie Guerraoui kehrt eine gewisse Unruhe ein. Die Eltern kamen Anfang der 1980er Jahre auf der Flucht vor politischen Unruhen aus Marokko in die USA und für Mutter Maryam fehlt jetzt die Person, die sie in dem fremden Land verankert hat. Während der Vater sich mit einem eigenen Diner selbständig gemacht hat und immer wieder Pläne für seine private und berufliche Zukunft entwickelte, fühlte sich die Mutter immer nur „dabei“. Die Kinder „sollten es einmal besser haben“. Salma geht den gewünschten Pfad weiter, studiert Medizin, heiratet und schafft sich passablen Wohlstand. Nur Nora mag dem Druck nicht nachgeben. Sie studiert Musik und komponiert, hat mit Anfang Dreißig aber immer noch nicht so recht Fuß gefasst.
Was vom amerikanischen Traum übrig bleibt
Mit dem Tod von Driss treten die verborgenen Risse im Leben der Guerraouis auf. Dass Nora nicht an einen einfachen Unfall glaubt, kommt nicht aus heiterem Himmel. Oft genug hat sie erlebt, dass Integration nicht beim Willen der Migranten aufhört, sondern dort, wo „die Anderen“ sie kein Stück weitergehen lassen. Wörter wie „Kameltreiber“ am Schulspind, Kleinkrieg mit dem Betreiber der Bowlingbahn nebenan und rassistische Sprüche gegen die schwarze Polizistin, die den Fall bearbeitet. Im Wüstenstädtchen kennt zwar jeder Jeden, aber die bewussten Abgrenzungen sorgen für Parallelgesellschaften mit penibel austarierten Möglichkeiten.
Die Option, dass jemand sein Auto gezielt auf Driss gelenkt hat, ist nicht so abwegig, wie es auf Anhieb aussieht. Zumal das Diner nach dem Anschlag auf das World Trade Center schon einmal in Flammen aufgegangen war. Doch die Ermittlungen sind harzig. „Die Anderen“ – im Original „The Other Americans“ — zeigt, welche Grenzziehungen die Gesellschaft lebt und das tragischerweise sogar auf beiden Seiten (was auch schon Rex Stout zum Thema gemacht hatte).
Ich hatte in dieser Stadt früh gelernt, dass die Brutalität eines Mannes mit Namen Mohammed nur selten in Zweifel gezogen wurde, seine Menschlichkeit dagegen immer erst bewiesen werden musste.
Zugehörigkeit und ihre Stolperfallen
Laila Lalami blickt dabei nicht nur hinter die Fassaden von Maryan und Nora. Salma, der scheinbar mühelos ein Aufstieg gelungen ist, hadert mit dem Druck (vor allem durch die Mutter), den dieser Weg auslöst. Nach Kräften neidisch schaut sie auf die jüngere Schwester, die sich dem Druck durch den Umzug in die Stadt entzogen hat und offenbar das bessere Los gezogen hat. Doch wo genau verläuft der eigene Weg und ist er nicht doch von elterlichen Visionen mitgeprägt?
Gemeinsame Wege und Erfahrungen führen nicht zwangsläufig zu harmonischen Familien oder Freundschaften. Lalamis Roman ist zudem einer über die Emanzipation von den Erwartungen anderer. Eine Erfahrung, die auch Jeremy macht. Ein Kumpel aus Armeezeiten entpuppt sich im zivilen Leben als ziemlicher Dreckskerl. Während der Kumpel aus den gemeinsamen Zeiten ein Anrecht auf Freundschaft ableitet, dämmert Jeremy irgendwann, dass sie außer eben jenem Irak-Einsatz nichts weiter verbindet. Dass die Freundschaft sogar im Desaster enden könnte.
Laila Lalami ist ein vielschichtiger Familienroman um Migration und Selbständigkeit gelungen. Ein Roman, der zugleich eine Bestandsanalyse der Gesellschaft ist, in der Gerechtigkeit unterschiedliche Voraussetzungen hat und bisweilen, wenn sie denn kommt, einen langen Anlauf braucht.
Ich hatte nie einer bestimmten sozialen Gruppierung angehört und würde wahrscheinlich nie einer angehören, doch zumindest das Gefühl eines solchen Miteinanders wollte ich in meine Musik legen.
Bibliografische Angaben
Verlag: Kein & Aber
ISBN: 978-3-0369-5833-0
Originaltitel: The Other Americans
Erstveröffentlichung: 2021
Deutsche Erstveröffentlichung: 2021
Übersetzung: Michaela Grabinger