Sulzbach im Taunus: An einem regnerischen Novemberabend wird eine Frau von einer Brücke auf die Straße gestoßen. Die Ermittlungen führen Pia Kirchhoff und Oliver von Bodenstein in die Vergangenheit: Vor vielen Jahren verschwanden in dem kleinen Taunusort Altenhain zwei Mädchen. Ein Indizienprozess brachte den mutmaßlichen Täter hinter Gitter. Nun ist er in seinen Heimatort zurückgekehrt. Als erneut ein Mädchen vermisst wird, beginnt im Dorf eine Hexenjagd.
Rezension
Mit der Entlassung von Tobias Sartorius aus dem Gefängnis brechen im kleinen Dorf Altenhain alte Wunden wieder auf: Tobias wurde vor zehn Jahres des Mordes an zwei Mädchen beschuldigt und verurteilt. Als freier Mann kehrt er in seinen Heimatort zurück, wo er allerdings erkennen muss, dass man seine Familie schwer in Sippenhaft genommen hat. Nur die Jugendfreundin Nathalie, heute eine gefeierte Schauspielerin, hält nach wie vor zu ihm. Parallel zu Sartorius lernt der Leser Pia Kirchhoff und Oliver von Bodenstein kennen, die zunächst zu einem Leichenfund auf einem alten Flughafengelände gerufen werden. Auch sie kommen kurz darauf mit der Familie Sartorius in Kontakt, als Tobias‘ Mutter von einer Brücke gestoßen wird.
Wir ahnen: Da gibt es Zusammenhänge in Hülle und Fülle. Die Polizei kommt in Gestalt von Pia Kirchhoff auf dieselbe Fährte: Die Kommissarin vermutet zwischen dem Sturz und der Rückkehr von Tobias einen Zusammenhang und lässt sich die alten Akten kommen. Tobias und sein Vater sind im Dorf groben Anfeindungen ausgesetzt, die die junge Amelie auf den Plan rufen. Für das Großstadtkind mit Leib und Seele ist das Kaff elendig langweilig und die Diskussionen um Tobias und das Wissen um die alten Mordfälle machen Altenhain plötzlich richtig spannend. Sie hört sich um, hält Kontakt zu Tobias und beginnt, Fragen zu stellen. Mit dem plötzlichen Interesse an den Mordfällen von mehreren Seiten haben jedoch viele Menschen ihre Schwierigkeiten und es kommt wie es kommen muss: Das Böse wiederholt sich.
Mehr als 530 Seiten lang gestaltet sich das Zerren und Schieben um die Frage, was damals wirklich passiert ist. Dass Tobias Sartorius unschuldig ist, ist klar, da es das Buch sonst nicht geben würde. Die Frage allerdings, wer es stattdessen war, braucht in der Tat viel Zeit und Platz für die Klärung. Ganz so simpel ist es am Ende nicht und wie sich traurigerweise zeigt, haben ziemlich viele Altenhainer mehr als nur eine vage Ahnung davon, dass Tobias tatsächlich unschuldig ist. Wer allerdings jetzt den Mund aufmacht, lebt gefährlich, denn die maßgeblichen Beteiligten haben sich inzwischen mit der Heimlichtuerei ziemlich gut arrangiert.
Das Buch erweist sich als überraschend komplex. Immer mehr Altenhainer verwickeln sich in Widersprüche oder stecken in gefährlichen Abhängigkeiten. Der Leser erlebt seltsame Rechtfertigungen, Tobias begegnet seltsamen Anflügen wieder auflebender Bekanntschaften und fragwürdigen Beweggründen. Man kommt stellenweise aus dem Zweifeln nicht heraus, schlussfolgert und überlegt, bleibt aber dennoch über weite Strecken über den tatsächlichen Hergang des damaligen Verbrechens ahnungslos. Über dem Schneewittchen wurde ein Füllhorn voller Probleme, schlechter Charaktere und fauler Eier ausgekippt und die Hälfte hätte es auch getan. Der Clou ist die flüssige Erzählweise, bei der man den Überblick trotz der verschlüsselten Choreographie nicht verliert und bei der am Ende alle Fäden sauber zusammen geführt werden.
Nicht alle Seiten sind mit dem Schicksal der Familie Sartorius verbunden. Auch Kirchhoff und von Bodenstein beteiligen sich mit ihrem Privatleben an einem Teil der Erzählung. Während von Bodensteins Ehe auf der Kippe steht, sorgt bei Kirchhoff ein Schreiben vom Bauamt für große Aufregung. Beide Elemente sind -wie ich finde- bündig und nicht überbordend eingebaut. Der Fall Sartorius bleibt die Haupterzählung. Alle Teile zusammen ergeben ein lebediges und spannendes Buch, das schwer aus der Hand zu legen ist.
Bibliografische Angaben
Verlag: Liebeskind
ISBN: 978-3-548283517
Erstveröffentlichung: 2010