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Urs Augstburger – Helvetia 2.0

Urs Augstburger – Helvetia 2.0

Urs Augstburger - Helvetia 2.0; Verlag Tropen bei Klett-Cotta

In der Nacht, als der Radio-DJ Anders Droka seiner großen Liebe begegnet, holt ihn die Vergangenheit ein. Er wird entlassen, gleich darauf Zeuge eines Mordes und bereits am nächsten Tag selber der Tat verdächtigt. Ein hochaktueller Schweiz-Thriller über die mafiösen Verflechtungen von rechtskonservativer Politik und digitalen Medien.

Wenn die unverwechselbare Stimme von Anders Droka zu nachtschlafender Zeit aus dem Äther dringt, gehen die musikalischen Herzen seiner Hörer auf. Nicht jedoch die der Berater, die ein großes Geschäft aus der Digitalisierung machen wollen. Mit der Folge, dass kritische Journalisten wie Droka entlassen werden und die Medienmogule zunehmend eine rechte Agenda verfolgen. Nachdem Droka des Mordes verdächtigt wird und aus Zürich fliehen muss, kontaktiert ihn plötzlich Peter Bender, ein Jugendfreund. Dieser arbeitet mittlerweile für einen milliardenschweren Unternehmer. Bender sorgt im Hintergrund dafür, dass ein Schweizer Medienhaus nach dem anderen in rechtskonservative Hände fällt, nun greift er selber nach der Macht. Steckt er hinter der Entlassung? Hinter dem Mord? Einst ging es bei den Freunden um dieselben Träume und Hoffnungen, jetzt um Leben und Tod.

Rezension

Anders Droka ist das Aushängeschild von Radio 1010. In seinen Sendungen nachts parliert und improvisiert er, die Musik ist ausgewählt, seltenes fügt sich ungeniert an Songs in Überlänge und Droka hat keine Angst vor Experimenten.

Den letzten Garanten von Glaubwürdigkeit und echter Leidenschaft. Der letzte, der noch ist, wie sie alle waren. Besessene.

Doch die Mediengruppe hat anderes vor: Die Berater der Wasmeier Consulting setzen diese Form des Musikradios zugunsten der üblichen Zuhörer-Animation ab. Droka erfährt während der Sendung davon, moderiert verletzt und wütend ab. Zur Beruhigung dreht er mitten in der Nacht ein paar Runden mit einem Motorrad. Beruhigen allerdings wird er sich nicht: Ein dicker Schlitten schneidet ihn, stinksauer von Droka verfolgt, und so wird er miterleben, wie der Autofahrer kurz darauf auf offener Straße erschossen wird.

Einer der letzten Anrufe in der Sendung bringt ihn durch Zufall auf die Spur der Sängerin Jonna Lunde. Auf sie ist er neugierig, weil er ihre Musik schätzt. Aber noch viel mehr, als er merkt, dass sie offenbar ein paar wichtige Leute der Wasmeier Consulting kennt: Kurz vor seinem Tod war jener Autofahrer bei ihr, Gert Rost, ein hohes Tier bei Wasmeier und verantwortlich für seine Entlassung. Zudem ist sie mit Peter Bender befreundet, ebenfalls ein Consultant und Droka aus gemeinsamen Schultagen in denkbar schlechter Erinnerung.

Als entlassener Moderator nichts zu tun und als Mordzeuge auf der Flucht, setzt sich Droka kurzerhand auf Lundes Spur. Er hofft, irgendwie Licht in die seltsame Sache bringen zu können.

Der Leser geht mit Droka auf eine Reise nach St. Tropez, wo Lunde als artist in residence Gast einer Kulturstiftung leben wird. Zugleich erzählt eine zweite Ebene, was Bender und die Wasmeier-Familie in Zürich vorantreiben. Hannes Wasmeier, Gründer der Consulting-Firma, legte den Grundstein für die heutige Kontrolle der Medienhäuser:

Die wahre Macht hat, wer die Medienhäuser kontrolliert, ist Wasmeier überzeugt gewesen, als er Überzeugungen noch äußern konnte.

Wir müssen nicht weit gehen, um die Brisanz der Einschätzung zu sehen. Silvio Berlusconi führte in Italien bereits zur Genüge vor, wie stark sich Wählerstimmen mit Hilfe der -in diesem Fall hauseigenen- Presse manipulieren lassen. In der Türkei oder China werden missliebige Zeitungen gleich ganz zu gemacht. Und in den USA spuckt der Präsident zumindest große Töne, er wolle dasselbe tun.

Im Hintergrund sorgt Wasmeiers Firma seit geraumer Zeit klammheimlich dafür, dass möglichst viele Journalisten politisch auf einer Linie liegen. Der hoch ehrgeizige Bender geht weiter, setzt Daten-Analysten für seine Pläne ein, er will Wasmeier beerben und seine Vision von Helvetia 2.0 viel weiter treiben. Die Zeit, in der Politiker den Leuten an Straßenständen oder am Stammtisch zuhören, ist bei ihm vorbei.

Seine Daten-Analysten verraten ihm stets, wo er mit welchen Themen zielgerichtet in die Social Media-Diskussionen eingreifen muss, wo Fakenews Verwirrung stiften, wo Leute beruhigend in die Irre geführt werden wollen. … Er hat erkannt, wie er die datengetriebene Kommunikation und das politische System in diesem Land so benutzen kann, dass aus der Vorzeigedemokratie das Gegenteil wird. … Consulter sind die besseren Politiker. Sie verbringen ihre Zeit damit, vermeintlich stabile Systeme von innen auszuhöhlen, bis sie reif für die neue Führung sind. So hat die Wasmeier-Consulting in wenigen Jahren die Presselandschaft des Landes umgepflügt.

Urs Augstburger hat ein hochaktuelles Buch geschrieben, er ist sehr politisch geworden. Augstburger serviert eine kluge Analyse, wie Daten eingesetzt werden und Presse manipulierbar gemacht werden kann. Gerade die Vorzeigedemokratien sind gefährdet, weil die letzten Jahre zu stark das Gefühl vermittelten, die Stabilität sei eine Selbstverständlichkeit.

Die Unabhängigkeit der Presse, Korrektiv in einer stabilen Demokratie, wird zum Spielball politischer Gruppen, wenn wirtschaftliche Interessen unkontrolliert gehandhabt werden. Wer kontrolliert die Wirtschaftlichkeit genau? Um die existenziell wichtige Unabhängigkeit zu gewährleisten, da muss man nicht den Journalisten auf die Finger schauen. Sondern viel mehr jenen, die die Medienkonzerne leiten – und je mehr Konzerne, je mehr Zusammenlegungen, umso einfacher haben es die Wasmeiers und Benders dieser Welt.

Soundtrack zum Buch

James Bay – Best fake smile
Bruce Springsteen – Atlantic City
Guns N’Roses – November Rain
Steve Earle & The Dukes – The Other Kind
Golden Smog – Radio King

Link zum Buch

In einem Artikel vom 7.1.2018 beschreibt die SZ die Hintergründe zum Buch: Die Schweiz wird im März in einem Volksentscheid über die Abschaffung der Gebühren für öffentlich-rechtliches Radio und Fernsehen abstimmen.

Die SZ fasst prägnant zusammen, was Augstburger als Roman festhält: „Die Schweizerischen Volkspartei (SVP) unterstützt die Abschaffung, weil davon die Medienhäuser prominenter Parteimitglieder profitieren könnten.“

Link: Warum die Schweiz bald die Rundfunkgebühren abschaffen könnte

Bibliografische Angaben

Verlag: Tropen
ISBN: 978-3-608-50344-9
Erstveröffentlichung: 2017

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