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Umberto Eco – Nullnummer

Umberto Eco – Nullnummer

Knapp fünfzig ist der Journalist Colonna, als er eine interessante Anfrage erhält. Eine, die er positiv beantwortet und damit in den Augen des Auftraggebers sich und seine Laufbahn enttarnt. „Provinzzeitungen, kulturelle Kleinarbeit, Ghostwriting“ analysiert Simei, Herausgeber einer neuen Zeitung. Simei plant „Domani“ im Auftrag des Commendatore Vimercate, eine Zeitung, die sich mit Skandalen befassen soll, aber nicht einfach nur berichten wird. Domani soll mit möglichen Hintergründen aufwarten, und zwar so, dass ausgewählte Leser angesichts der Enthüllungen und Mutmaßungen nervös werden.

Umberto Eco - Nullnummer

Das Spiel des Commendatore ist raffiniert: Die Zeitung soll eigentlich nie erscheinen, er will damit nur den gut informierten Platzhirsch markieren und Zutritt zur feinen Gesellschaft erhalten. Gleichzeitig will Simei ohne Wissen des Commendatore über das Experiment ein Buch schreiben. Dieses wiederum soll Colonna schreiben, der dafür Mitglied der Redaktion wird.

Über zwei Monate hinweg dokumentiert Colonna in „Nullnummer“ seine Arbeit in dieser merkwürdigen Redaktion, einer Redaktion, in der außer Simei und Colonna niemand weiß, dass all diese Texte niemals erscheinen werden. Da ist Romano Braggadocio, der Faktensammler, der seinen Autokauf minutiös plant, Zahlen und Vergleiche sammelt und in seiner Datenflut untergeht. Für ein Auto kann er sich jetzt erst recht nicht entscheiden. Da ist Maia Fresia, promovierte Philologin, gescheit und ambitioniert, die bisher nur bei einem Klatschblatt mit Affären hausieren gehen durfte. Cambria, der sich in Notaufnahmen und Kommissariaten um Sensationsnachrichten mühte. Die arbeitslose Korrektorin Constanza, deren Tätigkeit bei den meisten Zeitungen mangels Interesse an korrekter Schreibung einfach nicht mehr gefragt ist.

Überhaupt die Qualität journalistischer Arbeit: Sie steht im Mittelpunkt des Romans. Eco lässt an den Machern von Domani kein gutes Haar. Ein Begriff wie Lügenpresse fällt schnell, aber das ist gar nicht das Problem. Gelogen wird nicht. Die Kunst der „Dreckschleuder“, wie Eco diese Form des Journalismus nannte, ist nicht das Erfinden von Nachrichten, sondern das manipulative Darstellen von Fakten. Den Lesern Meinungen unterjubeln, subtile Formulierungen finden, Nachrichten zu Grüppchen mit suggestiver Wirkung zusammenstellen.

Die Kunst der Skandalerfindung

Das Handwerkszeug der Zeitungen sind nicht die schönen Schriften, nach denen Eco seine Protagonisten benannt hat, sie sind nur Kulisse. Da passt es völlig ins Bild, dass die Bemühungen Maias, gute und informative Rubriken zu entwickeln, grundsätzlich unter den Tisch fallen. Der paranoide Verschwörungsjäger Braggadocio geringschätzt sie deswegen sogar. Er ist die heimliche Hauptperson des Romans, nicht Colonna. Colonna ist derjenige, der durch das Abenteuer Zeitung führt und moderiert. Der mit Maia eine Affäre beginnen darf. Aber die Show gehört in diesem Roman jenem, der die Idee der Skandalfindung zur Expertise erhebt und offenbar eine Art Grundstein entdeckt für alles, was in Italien seit 1945 passiert ist. 

Braggadocio geht in seinem neuen Job auf. Seine Prämisse: Es gibt ausreichend Informationen, aber meist führen die Menschen sie nicht zusammen und ihnen entgeht folglich der Blick auf das Ganze. „Ein Fakt allein sagt gar nichts, alle zusammen lassen dich begreifen, was auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist.“ Braggadocio ist also genau der Mann, der in den Berichten über die letzten Stunden Mussolinis das Detail findet, das alle anderen seiner Meinung nach nicht richtig interpretieren konnten. Er trifft Informanten, stöbert in Archiven und baut Stück für Stück eine Theorie auf, die zahlreiche Lücken in Italiens Ermittlungsakten schließen soll. Es gibt spektakuläre Attentate und Morde genug, deren Ermittlungen in Stocken gerieten oder abgewürgt wurden. Braggadocio glaubt zu wissen warum.

Eco speist seinen Roman aus vielen Versatzstücken. Die Zeitung, die nie erschien, gab es in Italien tatsächlich einmal (wobei sie im Gegensatz zu Domani groß angekündigt war und nicht im Verborgenen betrieben wurde). Der Commendatore erinnert an den aufstrebenden Berlusconi, der es mit einem Medienimperium an die Spitze der Gesellschaft gebracht hat. Vermutlich sieht ein Italiener noch mehr Anspielungen, die ausländischen Lesern entgehen.

Botschaft hinter der Schlagzeile

Umberto Eco stellt ein bewusst aufgebautes Szenario zusammen, was man dem Buch auf ganzer Strecke anmerkt. Daran kränkelt der Roman aber auch. Das Konstrukt ist klug und entlarvend, aber auch blutleer. Bis zum Ende tändelt der Roman mit seinen Protagonisten durch die Tage, um am Ende mit einem Knall zu überraschen. Braggadocio lag mit irgendeiner seiner Vermutungen richtig und wird aus dem Weg geräumt — ein Ende, das sich durch einen Prolog von Beginn an erahnen ließ.

Wer im Dreck wühlt, wird auch welchen finden. Was man bei Braggadocio noch für Gespinste eines Verschwörungstheoretikers hielt, bestätigen die Kollegen der BBC in einem detailliert und solide recherchierten Filmbeitrag. Während sich das Gros italienischer Sensationspresse mit Petitessen abgibt, manipuliert und suggeriert, laufen in Wirklichkeit viel krudere Geschichten hinter den Kulissen ab. Wie Colonna feststellt, werden nur leider zu wenig Menschen in Italien Interesse an der BBC zeigen.

Ecos letzter Roman erinnert den Leser an den Wert guter Information und sachkundiger Arbeit. Er zeigt auch, welche Nachrichten wirksamer sind: Schlichte Skandale, die die Leser nicht allzusehr fordern. In Ecos Romanwelt kommt das Gewichten, Einordnen und Kuratieren der bedeutenden Nachrichten zu kurz. Halt … nur in Ecos Welt?

Diese Rezension von mir erschien ursprünglich im Oktober 2016 im (heute nicht mehr bestehenden) Onlinemagazin „Der blaue Ritter“.

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Bibliografische Daten

ISBN: 978-3-446-24939-4
Verlag: Hanser
Originaltitel: Numero Zero
Erstveröffentlichung: 2015
Deutsche Erstveröffentlichung: 2015
Übersetzung: Burkhart Kroeber

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