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Luca d’Andrea – Der Tod so kalt

Luca d’Andrea – Der Tod so kalt

Luca d'Andrea - Der Tod so kalt

Der amerikanische Drehbuchautor Jeremiah Salinger lernt die Heimat seiner Frau Annelise kennen: Sie kommt aus den italienischen Alpen in der Nähe von Bozen, aus einem keinen Dorf namens Siebenhoch. Ihr Vater Werner Mair ist ein Bergler aus altem Schrot und Korn und Mitgründer der Bergrettung obendrein. Salinger, der mit seinem Freund Mike McMellan bereits große Erfolge mit Doku-Serien im Fernsehen feiert, erkennt darin die Grundlage für eine neue TV-Doku: Er will die Bergrettung portraitieren. Bei einem der Drehs kommt es zu einem Lawinenabgang, die mehrere Menschen in den Tod reißt.

Salinger überlebt, wird allerdings mit postraumatischer Belastungsstörung diagnostiziert und will in Siebenhoch mit seiner Frau, der Tochter Clara und Werner wieder auf die Beine kommen. Das geht, wie man sich denken kann, nicht gut.

„Tabletten gut verschlossen halten“

Was bei vielen bloß als Grundlage für platte Witze dient, macht Salinger tatsächlich: Er hat keine Therapie und die verschriebenen Psychopharmaka nimmt er schon gar nicht. Selbst mit Schlaftabletten tut er sich schwer. Dabei hört er „die Stimme der Bestie“ oft genug. Statt dessen legt er sich mit einer neuen „Bestie“ an. Bei einem Ausflug in die Bletterbach-Schlucht hört er von einem Massaker im Jahr 1985, bei dem drei Menschen schrecklich zugerichtet wurden. Der Mörder sei bis heute nie gefunden worden. Salinger wird neugierig, hört sich um, etikettiert die Neuauflage der Ermittlungen als „Ablenkung“ von seiner PTBS.

Dabei entwickelt er eine Besessenheit, für die er richtig Ärger mit Annelise kassiert. Die merkt nämlich wohl, dass mit ihrem Mann etwas nicht stimmt und dass die Erholung von dem Lawinentrauma auf sich warten lässt. Nicht zuletzt sind die Leute im Dorf von den Nachforschungen alles andere als erfreut. Das Massaker hinterließ seine Spuren bei mehreren Leuten im Dorf.

„Auf die alten Geschichten“, prostete ich ihm zu.
„Auf die alten Geschichten“, stieß Werner an. „Auf dass sie dort bleiben, wo sie sind.“

Lieber arbeiten statt schwätzen

Die Leute aus Siebenhoch sind so, wie Bergler in Büchern immer sind: Karge Redner, die anpacken statt schwatzen und wo Leute von außen selbst nach Generationen noch Zugereiste sind. Irgendwie stimmt das Bild schon, aber das betrifft ja nicht nur die Bergler, das gilt für viele Dörfer in ländlichen Regionen. Deshalb erinnert mich das Buch streckenweise an Mörderhölzli von Sandra Gatti-Müller: Gatti schreibt über den Mord an ihrer Urgroßtante. Der war über hundert Jahre ungelöst, unter anderem, weil die Dörfler geschwiegen hatten und das, so schreibt Gatti, obwohl die meisten ziemlich genau wussten, wer es war.

Gatti sagte in einem ihrer Interviews einmal, sie glaube, dass es einen vergleichbaren Mord heute nicht mehr als solchen Justizskandal geben würde; die Arbeit der Polizei habe sich verbessert. Das Schweigen einer Dorfgemeinschaft eher nicht, fürchte ich. Also habe ich das Buch über, zugegebenermaßen, auf einen vergleichbaren Effekt gewartet wie bei Gatti. Zumal die Morde in der Bletterbach-Schlucht für die Carabinieri eher Nebensache waren. 1985 litt das Land noch unter dem Terrorismus der Brigate Rosse und damit wird die nachlässige Arbeit der Polizei im Buch entschuldigt (ein brutaler Dreifachmord – ehrlich?).

Der Jaekelopterus Rhenaniae lebt (vielleicht)

Ganz so gekommen ist es nicht. Im Dorf saß man vor und nach dem Massaker einigen Irrtümern auf. Die Dörfler mögen schauderhaft genau aufeinander schauen. Aber etwas über den anderen zu wissen, heißt eben noch lange nicht, es auch zu verstehen.

Lesen lässt sich das Buch wunderbar, wenn man ein bisschen außen vor lässt, dass der gute Herr Salinger sein PTBS nicht kuriert. Der Arzt gibt ihm erst nach etwa einem halben Jahr eine hinter die Löffel, als er dahinterkommt. Man muss d’Andrea allerdings anrechnen, dass er diesen Effekt offenbar brauchte, um die Besessenheit von Salinger zu erzeugen. Zugleich sind die Besessenheit und seine Alpträume der Auslöser dafür, dass er die Zusammenhänge aus der Zeit rund um 1985 irgendwann versteht. Denn da spielt plötzlich der rund 390 Millionen Jahre alte Skorpion Jaekelopterus rhenaniae eine tragende Rolle: Er könnte in der Bletterbach-Schlucht, einer ökologischen Nische, überlebt haben! Es gibt im Buch tatsächlich Leute, die so ein Urzeitmonster als Täter für realistisch halten (das bis zu 2,50 m lange Viech aus dem Buch wurde übrigens 2007 erstmals beschrieben).

Was für ein Tinnef! Dass Jaekelopterus rhenaniae mehr als ein paar Seiten überlebt, kann ich mir nur erklären, wenn ich umgekehrt postuliere, dass die Leute aus Siebenhoch das Unerklärliche (den Mord) mit Hilfe von etwas ebenso Unerklärlichem möglichst weit weg von sich schieben wollen. Und damit, dass d’Andrea noch ein paar Anknüpfungspunkte brauchte, um Brauchtum und Geschichten und Legenden der Region um ein spektakuläres Stück zu erweitern und zu zeigen, wie sich uralter Aberglaube ellenlang halten kann. Bei einer Schlucht in der Nachbarschaft, die ein gut 280 Millionen Jahre altes Geschichtsbuch öffnet, lag der Seeskorpion wohl nahe.

Apropos: Es lohnt sich nicht immer, den Schauplätzen eines Buchs hinterherzureisen. Aber nach allem, was ich über die Bletterbach-Schlucht gefunden habe, wäre dieses Plätzchen in Südtirol eine Reise wert.

Bibliografische Angaben

Verlag: DVA
ISBN: 978-3-421-04759-5
Originaltitel: La sostanza del male
Erstveröffentlichung: 2016
Deutsche Erstveröffentlichung: 2017
Übersetzung: Verena von Koskull

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