Ein Jahr nach Kriegsende, 1946, treffen sich zwei alte Schulkameraden auf der Halbinsel Miura, ein Stück südlich von Yokohama: Koichi Yanagi und Akimitsu Takagi, der sich selbst in die Handlung schreibt. Yanagi, noch nicht lange zurück aus seinem Miltärdiens, fand dort Unterschlupf bei der Familie seines früheren Bürgen, Professor Chizui. Zwar ist der Professor inzwischen verstorben, aber im Tausch gegen die Produktion von Süßstoffen für den Haushalt erhält Yanagi Kost und Logis, bis er irgendwo Fuß fassen kann. Und Yanagi trifft noch einen weiteren alten Bekannten, den Staatsanwalt Hiroyuki Ishikari, einen guten Freund seines Vaters.
Ishikari und Yanagi werden beim Chizui-Haus Zeuge eines merkwürdigen Vorfalls: Jemand schleicht mit einer gespenstischen Noh-Maske durch das Haus. Zutiefst besorgt bittet das derzeitige Familienoberhaupt die beiden um Hilfe. Seiner Meinung nach kann die Maske nur eines bedeuten: großes Unheil, denn die Maske soll unter einem jahrhundertealten Fluch stehen. Die Polizei solle man wegen des guten Rufs der alteingesessenen Familie aus dem Spiel lassen.
Da erinnert sich Yanagi an die eine große Leidenschaft seines Schulfreundes Takagi: Dieser las so viele Krimis, dass er in der Schule überall Geheimnisse witterte und eines Tages selbst Krimis schreiben wollte. Ihm schwebte eine eigene Kombination aus echtem Kriminalfall und einer Ich-Erzählung des erfolgreichen Detektivs vor. Wer also sollte besser geeignet sein, das Geheimnis der Familie Chizui zu enthüllen und dem mysteriösen Maskenträger auf die Spur zu kommen?
Ein Autor findet seinen eigenen Stil
Akimitsu Takagi lässt sich auf das Rätsel der Familie ein. Er lernt eine Familie kennen, in der fast jeder entweder ein Geheimnis zu haben scheint oder gar verrückt ist. Zunächst ist schwer zu sagen, wer hier am ehesten in Gefahr ist und warum.
Für den Plot muss dies als Ausgangslage reichen. Denn „The Noh Mask Murder“ überrascht mit seiner Handlung und dem Ausgang auf eine Weise, die ich keineswegs erwartet hatte. Sie wird obendrein Takagis Idee gerecht, einen Locked-Room-Whodunit anders zu erzählen, als er sie zur Entstehungszeit kannte. Dabei ist er selbst noch nicht einmal die Hauptstimme. Letztlich besteht der Roman aus einer Kombination dreier verschiedener Perspektiven, die — wie bereits ein Brief zu Beginn verspricht — erst am Ende einen schlüssigen Sinn ergeben. Man hätte die Geschichte tatsächlich kaum anders erzählen können. Alleine diese Konstruktion ist eine der Überraschungen, die der Krimi bereithält.

Akimitsu Takagi, ob nun als Autor oder Buchcharakter, gelingt es, den Krimi so zu erzählen, wie er es sich zu Schulzeiten gewünscht hatte. Zu einer Zeit, als er noch nicht daran glaubte, dass er jemals alle nötigen Faktoren gleichzeitig würde erhalten können: einen wahrhaft ausgeklügelten echten Kriminalfall, das intellektuelle Vermögen, den Fall selbst aufzuklären, die Hartnäckigkeit, Indizien und Hinweise zu finden und obendrein das literarische Talent, alles vernünftig zu Papier bringen zu können. Und dabei sieht es lange Zeit gar nicht danach aus, als könne er über seine lieb gewonnen Analogien zu den geliebten Kriminalromanen im Fall Chizui weiterkommen.
Ein Mann in zwei Rollen
In Teilen spielt der Autor bewusst mit den Charakteristika seines echtes Ichs und auch diese Montage empfinde ich als Besonderheit des Romans. Beide Takagis haben während des Krieges für einen Flugzeughersteller gearbeitet, den Job wegen der Schließung militärisch tätiger Unternehmen danach aber verloren. Eine Laufbahn als Autor schlug der reale Takagi nach einem Besuch bei einer Wahrsagerin oder Wahrsagers ein. Tatsächlich überzeugte sein Entwurf für „The Tattoo Murder Case“ einen der damals schon großen Autoren japanischer Kriminalliteratur, Edogawa Ranpo, und er empfahl das Manuskript einem Verlag.
Wie auch schon bei einigen Fällen von Yukito Ayatsuji oder Seishi Yokomizo ist auch „The Noh Mask Murder“ nicht nur ein Kriminalfall an sich. Es ist auch eine Hommage an die Wegbereiter des Whodunit und der Locked-Room-Krimis. Ich fände es nun interessant, umgekehrt auf eine ähnliche Art einmal eine europäische Hommage an eine japanische Literaturform zu finden. Falls jemand einen Tipp hat?
Bibliografische Angaben
Verlag: Pushkin Vertigo
ISBN: 978-3-455-01936-0
Originaltitel: Nohmen Satsujin Jiken (能面殺人事件)
Erstveröffentlichung: 1949
Englische Ausgabe: 2024
Übersetzung: Jesse Kirkwood