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Anika Decker – Wir von der anderen Seite

Anika Decker – Wir von der anderen Seite

Manchmal ist es echt gut, wenn man ein Buch halb verschlafen wahrnimmt. Bei Anika Decker war das der Fall: Der Name sagte mir nichts, dafür klang die Kurzbeschreibung wirklich gut und das Cover fand ich herrlich spacig. Wieso war da ein Eichhörnchen drauf?

Nicht lange gefackelt, besorgt. Das war gut so, denn hätte ich mehr mitbekommen, wäre möglicherweise mein „Hype-Sensor“ angesprungen. Ich stelle bei Büchern nämlich gerne selber fest, ob sie gut sind oder nicht — im Fall von Anika Decker wollen mir unter anderem Sibylle Berg, und Iris Berben diese Aufgabe mit großen Lobesworten abknöpfen. Sowas mag ich überhaupt nicht! Ist ein Buch mit solchen „Testimonials“ vollgestopft, lege ich solche Bücher sogar ziemlich schnell wieder weg.

Decker ist in Deutschland eine gefragte Drehbuchautorin und Regisseurin. Ihre Kinohits stehen gerade praktisch in jedem Text über das Buch — auch das habe ich glücklicherweise verpennt (und ich kenne sowieso keinen davon). Ganz ohne Knowhow also an den Titel herangegangen, ganz ohne Hype-Sensor und mit dieser Konstellation liest sich Deckers Buch wunderbar.

Das winkende Eichhörnchen

Decker erzählt von Drehbuchautorin Rahel Wald, die aus dem Koma erwacht. Das fühlt sich unheimlich komisch an. Die Frau, die Rahel jetzt ist, scheint ihr völlig fremd. So dünn, so hilflos und voller Schmerzen. Es ist seltsam, dass nur ihre Familie da ist, der Freund sich aber auf Bali amüsiert. Und was den Krankenhausaufenthalt überhaupt ausgelöst hat, ist verschüttet. Totaler Filmriss.

Mama koch mir Suppe und päppelt mich auf. Dann feiern wir schön Weihnachten und alles wird gut.

Langsam begreift Rahel, dass sie Weihnachten verpasst hat, dank multiplem Organversagen richtiggehend verschlafen. Dass sie überhaupt lebt, grenzt an ein Wunder. Der Entzug der Koma-Medikamente löst fürchterliche Alpträume und merkwürdige Tagträume aus. Bisweilen winkt ihr sogar ein Eichhörnchen zu. Nach Tagen, in denen sie häppchenweise ihre Situation zu überblicken beginnt, wird sie sich immer fremder. All die Energie und Kraft, die sie früher einmal hatte, sind spurlos verschwunden. Rahel begreift schmerzlich, dass sie sich mit diesem neuen Ich wohl oder übel anfreunden muss. Dabei hat sie das größte Rätsel nicht einmal vollständig erfasst: Wie kam sie überhaupt hierher?

„Es muss kein Loch für mich gegraben werden.“

Die Rückkehr ins selbstbestimmte Leben wird ein monatelanger Kampf. Anika Decker findet für Rahel eine Stimme, die den täglichen Frust hervorragend transportiert, ohne ins Tränendrama abzustürzen. Nicht, dass Rahel das ohne schaffen würde, aber sie ist eine Frau, die sich ihre Situation mit herzhaftem Sarkasmus erträglich machen kann. Das mag ich, so ticke ich nämlich auch ganz gerne.

Kurz nach ihrem Aufwachen schildert Rahel eine Szene, wie sie erstmals „richtiges“ Essen bekommt, einen Becher Joghurt. Die Schwester macht sich bereit zum Füttern. Rahel aber will mit ihrer frisch gewonnen Lebendigkeit natürlich selber essen, doch der Löffel fällt ihr aus der Hand. Nach dem Koma funktioniert nicht einmal der einfache Zugriff. Sie kommentiert:

Krass, falls ich sterben sollte, könnte ich noch nicht mal den Löffel abgeben, sagt mein albernes Ich.

Zwischen Helden und „Makaken“

Rahel Walds Weg durch die Rehabilitation ist ein ewiges Auf und Ab. Manchmal ist das Auf und Ab des Körpers sogar das kleinere Übel, weil es erwartbar ist. Mal klappen Übungen zum Muskelaufbau besser, mal schlechter. Was aber richtig wütend und fassungslos machen kann, sind die Personen, die Rahel auf ihrem Weg eigentlich sinnvoll begleiten sollen. Rahel erfährt von einem Physiotherapeuten sexuelle Belästigung, die sie schließlich beherzt anspricht. Die Sorge ihres Gegenübers konzentriert sich sofort darauf, dass der Therapeut die übliche Behandlungszeit weit überschritten hat. Die lässt sich nun nicht mit der Krankenkasse abrechnen. Ein Moment, in dem ich mein Entsetzen gerne für die kraftlose Rahel kanalisiert hätte.

So zum Beispiel, wie es ihre Mutter getan hatte, als Rahel vor Weihnachten ins Krankenhaus kam. Der Arzt stempelte sie als hysterisch ab, statt sie als Notfallpatientin ernst zu nehmen. Mir fallen Artikel ein, die ich dazu schon gelesen habe und die Wut kommt, dass sich trotz des inzwischen besseren Wissen nichts geändert hat (Buchtipp: Caroline Criado-Perez mit „Unsichtbare Frauen“).

Deckers Buch ist aber nicht als Spiegel der Medizin gedacht (auch, wenn ich zwischenzeitlich dahingehend beim Lesen abdriftete). Es ist ein intensives Stück über eine Frau, die sich ihr Leben zurückerobert. Schritt für Schritt holt sie sich ihre Erinnerungen zurück, sortiert ihr Leben und dabei sortiert Rahel auch ihre Prioritäten neu. Familie, Job, Freund — nach dieser Erfahrung kommt alles auf den Prüfstand. Die Kraft, die monatelang gefehlt hat, kommt nun mit ungeahnter Größe zurück. Letzten Endes macht das viel Mut.

Bibliografische Angaben

Verlag: Ullstein
ISBN: 978-3-8437-2165-3
Erstveröffentlichung: 2019

2 comments

  1. Liebe Bettina,

    danke für den Tipp (habe es bei dir auf twitter entdeckt) und jetzt habe ich dank deiner Rezension auch eine Vorstellung vom Buch.
    Trotz Eichhörnchen muss ich jetzt aber doch zugeben, dass ich es lieber nicht lesen möchte. Ich fürchte, es triggert doch zu sehr – in meinem Fall. Umso besser, dass ich deinen Text lesen konnte!

    Ganz liebe Grüße
    Sandra

    1. Bettina Schnerr says:

      Liebe Sandra,

      in diesem Fall scheint die Buchvorstellung eine echte Hilfestellung gewesen zu sein. Wenn du weitere Rückfragen hast, kannst du mir gerne persönlich schreiben.

      Liebe Grüße
      Bettina

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