Was passiert, wenn Datensätze unvollständig sind? Üblicherweise stopft man die Lücken, damit Produkte oder Infrastrukturen überhaupt einsatzfähig sind oder eine Auswertung belastbare Zahlen abliefert. Caroline Criado-Perez allerdings zeigt in ihrem Buch, dass es einen speziellen Typ von Datenlücke gibt, bei dem bisher kaum Interesse bestand, etwas zu ändern. Und das, obwohl die Datenlücke inzwischen bekannt ist und vor allem, obwohl die Datenlücke tatsächlich 50% aller Menschen betrifft — nämlich Frauen.
Fangen wir mit einem Beispiel an: Will man einen Autounfall simulieren, setzt man einen Dummy in ein Auto und prüft, was im Fall eines Aufpralls mit ihm passiert. Mit den zugehörigen Messwerten werden Sicherheitsgurte ausgelegt, Sitzkonstruktionen optimiert oder Airbags gebaut. Alles mit dem Ziel, kritische Messwerte so weit zu verbessern, dass später alle Passagiere heil nach Hause kommen. Trotzdem sterben Frauen bei einem Autounfall mit 17 Prozent mehr Wahrscheinlichkeit als Männer. Komisch, dabei hatten die Hersteller die Dummys doch extra mit den Durchschnittswerten „der Bevölkerung“ gebaut?
Unser Denken wird in hohem Maß von der Annahme „Männlich bis zum Beweis des Gegenteils“ bestimmt.
Von wegen: Es gibt bei solchen Tests schlicht und einfach nur „männliche“ Dummys. Puppen, die mit den durchschnittlichen Körpermaßen von Männern gebaut wurden. Im Endeffekt heißt das nicht anderes, als dass die Sicherheitsmaßnahmen für einen ganzen Teil der Passagiere nicht stimmen und auch gar nicht stimmen können. Frauen sind im Schnitt kleiner und leichter und sobald ein Unfall passiert, funktionieren die Sicherheitssysteme nicht ganz so gut wie sie sollten.
Eine Datenlücke, die Leben kostet
„Die Bevölkerung“ entpuppt sich in Datensätzen in der Regel als eine rein männliche Welt. Caroline Criado-Perez listet zahlreiche solcher Lücken auf. Manche davon sind „nur“ ärgerlich, nichtsdestotrotz gehen sie auf die jahrelange Fokussierung auf männliche Messwerte zurück. Warum Frauen in vielen Büros öfter frieren, liegt zum Beispiel an einer standardisierten Temperatur, die in den 1960ern festgelegt wurde. Ihr zu Grunde liegen wissenschaftlich bestimmte Stoffwechselraten. Es ist —man ahnt es schon— die von Männern. Tatsächlich liegt die Stoffwechselrate von Frauen signifikant darunter, sodass die berechnete Standardtemperatur für sie 5 °C zu kalt sind.
Es gibt praktisch keinen Lebensbereich ohne Datenlücken. Und es gibt viele, in denen diese Lücke effektiv Leben gefährdet oder sogar Leben kostet. Speziell in der Medizin gibt es Beispiele, die den lebensgefährdenden Effekt drastisch aufzeigen.
Es gibt Medikamente, die bei Männern helfen, bei Frauen hingegen eher unwirksam sind (und manchmal sogar schädlich). Ins Bild gehören auch Krankheiten wie Staublungen, die hervorragend untersucht sind — sie haben ihren Ursprung in männlich geprägten Arbeitsfeldern. Es gibt hingegen einen signifikanten Anstieg der Brustkrebsraten in den letzten 50 Jahren, für deren Ursachen sich bisher kaum jemand interessiert hat — es sind typisch weibliche Arbeitsfelder zum Einen. Zum Andern spielt es eine Rolle, dass Schadstoffexpositionen und ihre Auswirkungen vom männlichen Datensatz ausgehen und daher oft nicht ohne Weiteres auf Frauen extrapoliert werden können.
Das Versagen der Gesellschaft
Die Lücken sind inzwischen sattsam bekannt und, wie das Buch zeigt, auch fundiert belegt. Es wird allerdings kaum etwas geändert. Im ersten Affekt vielleicht, weil es als „feministischer Kram“ abgetan wird. Das greift bei Weitem zu kurz. Am Nichtstun sind paradoxerweise Berufsgruppen beteiligt, die enormen Wert auf Daten und deren korrekte Interpretation legen. Kein Ingenieur würde eine Brücke bauen, wenn ihm die Hälfte aller Daten fehlte. Infrastrukturen können nicht richtig ausgelegt werden, wenn die Zahl der Nutzer:innen unbekannt ist. Oder könnt ihr euch einen Fahrstuhl vorstellen, für den bei der Auslegung nur die Zahl jener geschätzt wurde, die bis zum 6. Stock wollen, nicht aber jene, die auch die höheren Stockwerke besuchen?
Die Tech-Entwickler vergessen Frauen sogar dann, wenn diese die potenzielle Mehrheit der Kundschaft stellen.
Wissenschaftler, Medizinier, Ingenieure, … sie alle wissen, dass eine Datenlücke mit einem Umfang von 50% keine verlässlichen Aussagen zulässt. Im Bereich des Gender Data Gap, wie Caroline Criado-Perez diese Datenlücke nennt, stur zu bleiben, widerspricht der üblichen Genauigkeit auf ganzer Länge und ist nicht zu entschuldigen.
Diversität ist gefragt
Es erscheint nur folgerichtig, dass Caroline Criado-Perez vor allem Frauen identifiziert, wenn es um die Schließung der Datenlücke geht.
Wir müssen die Lücke in der Repräsentation von Frauen schließen. Wenn Frauen in der Forschung und Wissensproduktion an Entscheidungsprozessen beteiligt sind, werden Frauen nicht vergessen. Davon profitieren Frauen auf der ganzen Welt.
Doch selbst in der einen großen Lücke gibt es weitere. Criado-Perez macht gleich zu Beginn darauf aufmerksam, dass zum Beispiel PoC oft nicht einmal dann berücksichtigt werden, wenn eine Aufschlüsselung nach Gender existiert (denkt man zum Beispiel daran, dass schwarze Frauen bei Geburten eine höhere Sterblichkeit haben als weiße, sind solche Verfeinerungen von großer Bedeutung). Criado-Perez hat umfangreiche Recherchen angestellt und belegt ihre Faktensammlung mit einer Vielzahl von Quellen. Umso mehr ist „Unsichtbare Frauen“ ein fundierter Beitrag in den Bemühungen, die Datenlücke umsichtig zu schließen.
Linktipps
- Caroline Criado-Perez fasst in The Guardian ihr Buch zusammen: The deadly truth about a world built for men – from stab vests to car crashes
- Eine Kurzfassung zur „Bias in Medicine“ arbeitet John Oliver in LastWeek Tonight auf
- Die Drehbuchautorin Anika Decker schildert in Wir von der anderen Seite ihre Rückkehr ins normale Leben, nachdem sie mit multiplem Organversagen tagelang im Koma lag. Auslöser: Ein Arzt mit „Bias“, der ihre Symptome und ihre Schmerzen nicht ernst genommen hatte.
Bibliografische Daten
Verlag: btb
ISBN: 978-3-442-71887-0
Originaltitel: Invisible Women. Exposing data in a world designed for men
Erstveröffentlichung: 2019
Deutsche Erstveröffentlichung: 2020
Übersetzung: Stephanie Singh
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