Was für eine enorme Zahl: 78 Prozent aller Deutschen leben inzwischen in Städten (in der Schweiz etwa 85 Prozent). Den Städtebau stellt der ungebrochene Zuzug in die Zentren vor verschiedene Herausforderungen. Denn im Alltag bedeuten viele Menschen auf kleiner Fläche: viel Betrieb zwischen Wohnungen, Arbeitsplätzen und Geschäften. Hoher Bedarf an unterschiedlichen Freizeitangeboten. Nachfrage nach bezahlbarem und geeignetem Wohnraum. Viel Flächenverbrauch und weniger Grünräume. Viele Autos, Straßen und Parkplätze. Eine logistische Herausforderung für Zulieferbetriebe aller Art.
Städte waren zugleich schon immer Begegnungszentren und Orte, an denen Handel getrieben wurde oder wichtige Entscheidungen getroffen wurden. Sie waren und sind Orte, von denen viele Veränderungen ausgegangen sind. Die hygienische Infrastruktur ebenso wie eine umfassende medizinische Versorgung oder Bildungsangebote.
Gabriela Beck fasst in ihrem Buch „Wie wir wohnen wollen“ die verschiedenen Aspekte zusammen, die eine lebenswerte Stadt ausmachen. Sie identifiziert acht Bereiche: Gesellschaft, Wohnungsbau, Mobiliät, Gesundheit, Artenvielfalt, Klimawandel, Ressourcen und Digitalisierung.
„Wo wir anpacken müssen“
Bereiche wie Digitalisierung oder Klimawandel sind Neuzugänge bei den Überlegungen zu Wohnräumen – im Vergleich zu Themen wie Wohnungsbau, die schon immer eine Rolle gespielt haben. Gleichzeitig durchleben aber die „üblichen“ Themen einer Stadt massive Veränderungen.
Die Mobilität gehört zu jenen Punkten, die sich einschneidend verändert haben, schreibt Beck. Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Städte komplett aufs Auto fokussiert. Mobilität ohne Motor galt plötzlich als rückständig. Inzwischen haben viele Städte und Gemeinden begriffen, dass sie aus diesem Denkmuster wieder herausmüssen. Eine Aufgabe, die nun kostspielig und langwierig ist, notiert Beck. Einerseits wurde die Infrastruktur für Alternativen jahrzehntelang abgebaut oder vernächlässigt. Andererseits ist es schwer, Menschen nun von etwas anderem zu überzeugen, wenn sie ebenso lange auf das Auto konditioniert wurden. Deutschland, wie viele andere Länder, ist funktionierenden Systemen also mächtig hinterher. Das Beispiel Tokyo, das beim städtischen Nahverkehr gerne als Positivbeispiel herangezogen wird, funktioniert gerade deshalb, weil seit jeher kontinulierlich in unterschiedliche Infrastrukturen investiert wurde und keine Spezialisierung betrieben wurde. Dasselbe gilt für Holland und dessen Verkehrswesen.
Das Ziel: Bessere Forderungen stellen
Gabriele Beck dokumentiert für jeden Bereich, wo die Dinge im Argen liegen. Im Bereich Wohnungsbau verstehen sich viele Gemeinden nicht mehr als Gestalter der eigenen Stadt. Der Raum wird Investoren überlassen, die nicht für die Stadt gestalten. Die Klientel, für die gebaut wird, ist oft eng begrenzt, und hat wenig mit den eigentlichen Anforderungen zu tun, die in der Stadt herrschen. (Und das, was gebaut wird, sieht alles gleich langweilig aus, egal wie teuer es vermietet wird – schiebe ich genervt hinterher.)
Wichtig ist, überhaupt einmal anzufangen.
Weitere Faktoren sind unter anderem die starke Versiegelung, unter der verschiedene Tierarten leiden. In dieses Feld gehören zum Beispiel Bepflanzungen, die wenig biologischen Spielraum lassen. Ein Grund dafür kann sein, dass sie zu weit voneinander entfernt sind. So leben kleine Populationen entkoppelt voneinander und können kaum auf Veränderungen in ihrem Lebensraum reagieren.
Nicht zuletzt ist der Klimawandel zu einem bedeutenden Faktor geworden. Hitze und Starkregen setzen Siedlungen massiv zu und Beck zeigt, dass die meisten Städte gar nicht richtig aufgestellt sind. Weder in ihren bestehenden Bauten, noch in aktuellen Planungen, obgleich die Herausforderungen bekannt sind. Für Ideen, wie es besser laufen könnte, benennt sie Städte, die bereits umdenken und zeigt, welche Maßnahmen ergriffen werden.
„Wie wir wohnen wollen“ beschreibt also nicht nur die Probleme im derzeitigen Städtebau. Das Buch zeigt stets auch, wie nachhaltiges Wohnen möglich ist. Eine Kernfähigkeit lebenswerter Städte nennt Beck „Elastizität“: Freiräume für Improvisation, für Spontaneiät. Gabriele Beck ermuntert dazu, Wohnformen ausprobieren und fordert Städte dazu auf, sich wieder aktiv an Planungen zu beteiligen. Vereinfacht gesagt: Städte müssen Forderungen an Bauten stellen, Einwohnerinnen und Einwohner auch.
Wenn sich sehr viele Menschen für ihre Umgebung interessieren, in der sie leben, entsteht Handlungsdruck für die Politik. In Zukunft werden wir uns viel ausführlicher als bisher damit beschäftigen müssen, wer für wen oder mit wem plant.
Und Beck macht Mut. Es müsse selten der ganz große Wurf sein, um Lebensraum zum Positiven zu verändern. Je nach Situation finden sich fast immer einfache und günstige Maßnahmen. Nicht vergessen gehen sollte dabei das Bewusstsein, dass unsere Wohnräume schon immer ein Raum für Vielfalt und Veränderung waren. Viele Städte, die heute als Vorbilder für eine bessere Mobiliät oder grüneren Lebensraum dienen, haben sich Stück für Stück zu dem entwickelt, was sie heute sind.
Bibliografische Daten
Verlag: Leykam
ISBN: 978-3-455-01716-8
Erstveröffentlichung: 2017
Bestellen bei genialokal.de* / buchhaus.ch* / osiander.de* / orellfuessli.ch* (*Affiliate-Links)