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Jan Gehl – Städte für Menschen

Jan Gehl – Städte für Menschen

Jan Gehl - Städte für Menschen
Jan Gehl – Städte für Menschen

Irgendwann fällt vermutlich jedem auf, dass Städte ganz unterschiedlich auf uns wirken. Lange habe ich mir nicht wahnsinnig viel Gedanken darum gemacht. Es war eben so. Eines Tages aber stieß ich auf Twitter auf den kanadischen Städteplaner Brent Toderian. Mit seinen Denkanstößen schaue ich inzwischen nicht nur, wie Städte gestaltet sind. Ich bin neugierig auf die Ideen und Konzepte, die wohnlichen Städten zu Grunde liegen. Im Buch Stadt der Zukunft war ebenfalls viel davon die Rede, aber hier fehlten mir konkrete Beispiele. Beim Stöbern zu diesem Thema fällt schnell der Name Jan Gehl als einer der Vordenker, sodass ich mich gezielt auf die Suche nach einem Titel von ihm machte. Mit „Städte für Menschen“ habe ich ein Buch gefunden, das Grundlagen erklärt sowie Best und Worst Practices zeigt.

Das menschliche Maß

Das Maß aller Dinge ist im Städtebau tatsächlich der Mensch. Alles wird im Idealfall auf ihn zugeschnitten: Auf seine Größe, seine Fähigkeiten, seine Geschwindigkeit, seine Bedürfnisse, seine Bewegungsmuster. Das passiert seit tausenden von Jahren. Eine Stadt bietet Handelsplätze, Lebensraum und vor allem Begegnungsraum. Dementsprechend wurde sie angelegt. Erst unterhalb eines Abstands von ca. 25 Metern nehmen wir andere Menschen detaillierter wahr und können sie gut erkennen. Das ist der Abstand, der für einen Kontakt wichtig ist. Bis maximal 100 Metern nehmen wir Menschen zumindest so weit wahr, dass wir im Ansatz zum Beispiel Körpersprache, Alter oder Bewegungen sehen. Nach solch großen Maßstäben werden beispielsweise Theaterräume oder Fußballstadien gebaut, während die kleineren Maßstäbe wichtig für Straßen oder Häuser sind.

In den 1950er und 1960er Jahren kam ein neuer Player ins Spiel: Das Auto. Aus Städteplanung wurde Verkehrsplanung. Damit verschoben sich die Maßstäbe in den Planungen massiv, denn Autos sind deutlich schneller unterwegs. Statt 5 km/h war die Planungsbasis nun 50 km/h und mehr. Statt sensorische Wahrnehmung im herkömmlichen Sinne zu ermöglichen, musste diese nun drastisch reduziert werden, um noch eine gewisse Sicherheit zu gewährleisten. Je höher die Geschwindigkeit, umso weniger Details verarbeitet der Mensch. Die Konsequenz, so Gehl, ist ein wenig detaillierter Stadtraum, damit die Autofahrer nicht überfordert sind. Im Gegenzug wird die Stadt für den Menschen ermüdend und uninteressant.

Es hat sich herausgestellt, dass die Leute des übermächtigen Autoverkehrs und der Auswirkungen moderner Stadtplanung überdrüssig sind. Sie möchten am liebsten, dass sich Straßen und Plätze in kulturelle Kommunikationsräume verwandeln. Aus diesem allgemeinen Willen heraus entstand in Dänemark ein Paradigmenwechsel. Kopenhagen ist dafür das beste Beispiel. Denn wir wollen alle in einer Stadt leben, die lebenswert, nachhaltig und gesund ist.“

Jan Gehl im Interview, DLF Januar 2016

Die Verwirrung bei Maßstab und Proportionen

Gehl erklärt vor allem in den ersten beiden Kapiteln diese Bedürfnisse und Grundlagen: Die Qualität der Straßen-, Stadt-, Häuser und Raumplanung steht und fällt tatsächlich mit der Frage, ob das menschliche Maß bewahrt bleibt. Anhand vieler Beispiele zeigt er, dass nicht nur die Planung von Städten dem Auto unterworfen wurde. Architektur gehorchte plötzlich auch Ideologien, die an menschlichen Bedürfnissen komplett vorbei gingen. Die Planstadt Brasilia mochte auf dem Reißbrett großartig aussehen, in der Realität ist sie ein ebenso grässliches Konstrukt wie riesige Wohntürme mit leeren Zwischenflächen, die Menschen voneinander trennen statt sie zu verbinden.

Das Buch ist reich bebildert mit guten wie schlechten Beispielen (vgl. Leseprobe). Obwohl viele der Fotos recht klein sind, erkennt man trotzdem schnell, ob die gezeigte Szene einladend oder abstoßend wirkt. Gleichförmige Fassaden, zugeklebte Schaufenster und Bänke ohne Lehne gegen vielfältige Ladenzeilen, Bürgersteige ohne Hindernisse und Baumreihen. Immer erklärt Gehl, wo jeweils die Vor- und Nachteile liegen. Oft genug entstehen ganze Stadtviertel mit Modellen, die nur eine Vogelperspektive erlauben. Rückschlüsse auf die Perspektiven, die auf Augenhöhe erzeugt werden, geben solche Modelle allerdings nicht her.

Sicherheit, Lebenswert, Vielfalt

Unterteilt ist das Buch in viele Aspekte, die Städteplaner durch ihre Konzepte beeinflussen können. Sicherheit gehört mit dazu und bekommt in zweierlei Hinsicht ihren Platz im Buch. Da ist zum einen die Verkehrssicherheit für Fußgänger und Fahrradfahrer, die für die Lebensqualität eine maßgebliche Rolle spielt. Gehl zählt verschiedene Beispiele auf, mit welchen Details in diesem Bereich große Schritte erzielt werden können. Zum Anderen ist da der Wunsch nach einer geringen Kriminalität. Auch diese lässt sich über stadtplanerische Konzepte senken. Hier spielt unter anderem die Aktivität der Bewohner in ihrem Viertel eine große Rolle: „Eine lebendige Stadt wird zur geschätzten Stadt und damit automatisch sicherer.,“ schreibt Gehl.

Menschen gehen dorthin, wo andere Menschen sind.

Gleichzeitig sind „viele Leute“ unter einem anderen wichtigen Aspekt nicht immer ein Zeichen für eine gelungene Straße: Sehen die einfach nur zu, dass sie schnell weiterkommen, hilft das der Lebensqualität nicht weiter. In einer lebendigen Stadt, so Gehl, treffen sich Menschen, bleiben stehen, pausieren und … sie laufen langsamer. Elemente wie lange Mauern hingegen oder zugeklebte Schaufensterfronten hingegen signalisieren „Geh weiter!“. Lösbar sind solche Herausforderungen sowohl durch Nachbesserungen als auch durch klare Bauauflagen. Namentlich erwähnt sind unter anderen Stockholm und Melbourne, die das das Konzept dieser „aktiven Fassaden“ verfolgen.

Kostet doch was, oder?

Interessanterweise rentieren sich Mehrausgaben für bessere Fassaden und kleinteiligere Nutzungskonzepte. Die Menschen kommen dann zum Einkaufen und trinken Kaffee, verweilen länger, wenn es ihnen gefällt und Spaß macht. Gehl verweist darauf, dass günstigere Mietpreise ein Viertel oft erst attraktiv machen: Vielfältigere Angebote, mehr Lebendigkeit sorgen für insgesamt mehr Einkommen aus Vermietung und Verpachtung anderer Immobilien (interessanterweise ist die Umsatzsteigerung des ansässigen Handels im Buch kein Thema, z.B. Madrid, London).

Dafür hebt Jan Gehl die rentable Nachhaltigkeit lebenswerter Städte hervor: Nicht nur, dass Radfahrer und Fußgänger weniger Platz beanspruchen oder eben ohne Abgase fahren, sie bewegen sich effizienter fort: Der Städteplaner rechnet vor, dass zwei Radspuren Kapazität für bis zu 10.000 Menschen pro Stunde bieten, während zwei Fahrspuren für Autos höchstens 1000 bis 2000 Fahrzeuge schaffen.

Mit offenen Augen durch die eigene Stadt

Inzwischen gehe ich durch die Stadt, in der ich wohne, mit anderen Augen. Ich verstehe, warum die Straße, in der ich wohne, zu überhöhter Geschwindigkeit einlädt und die kleinen Geschäfte hier kein bisschen einladend sind. Warum die Haupteinkaufsstraße eine ist, aus der man schnell wieder rauswill. Warum ich für Geschenke, Einkäufe und Bummel lieber woanders hinfahre, wo die Straßen „bummelbar“ sind.

Der Clou ist, dass Wünsche nach „bummelbaren“ Straßen oder lebenswerten Städten kein Klagen auf hohem Niveau sind. Tatsächlich, so Gehl, ist ein Paradigmenwechsel im Städtebau wichtig und überfällig. Weltweit nimmt die Stadtbevölkerung zu: Kurz nach der Jahrtausendwende lebten global erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land — Tendenz steigend. Schätzungen gehen dem Buch zufolge davon aus, dass der Anteil von Stadtbewohnern bis 2050 auf 75% steigen wird. Städte stehen also tatsächlich in der Pflicht, eine sinnvolle Lebensqualität zu schaffen und zukunftsorientiert zu denken und zu handeln.

Man hat erkannt, was jahrelang missachtet wurde: dass die planerische Für- und Vorsorge für die Einwohner ein wichtiger Schritt zu lebendigen, sichern, nachhaltigen und gesunden Städten ist — im 21. Jahrhundert ein Ziel von entscheidender Bedeutung.

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Bibliografische Angaben

Verlag: Jovis
ISBN: 978-3-86859-356-3
Originaltitel: Byer for Mennesker
Erstveröffentlichung: 2010
Deutsche Erstveröffentlichung: 2015
Übersetzung: Annette Wiethüchter

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