Close

Bleisatz

Literatur, Rezensionen & mehr

Katja Diehl – Autokorrektur

Katja Diehl – Autokorrektur

Es gab mal eine Zeit, da war das Auto ein Forbewegungsmittel von vielen. Nicht zuletzt, weil sich kaum jemand ein Auto leisten konnte. Das hat sich in den 1950er Jahren geändert. Leisten konnte man sich ein Auto zwar immer noch nicht generell, aber auf jene Zeit geht der automobile Traum Deutschlands zurück: Irgendwann soll jeder eines haben und quer durch die Lande fahren können, wohin es beliebt. Aus dem „Traum von Freiheit“ ist allerdings längst ein Mobilitätszwang geworden. Katja Diehl fordert deshalb eine „Autokorrektur“. Sie fragt sich, wie es so weit kommen konnte und wie eine wirklich attraktive Mobilität aussehen könnte.

Diehl hat im Lauf ihrer beruflichen Beschäftigung mit Mobilität festgestellt, dass im Bereich Auto viel zu wenig hinterfragt wird. Just beim Auto gerät dieser jahrzehntealte Denkfehler ausgesprochen teuer und macht aus Städten und Gemeinden ziemlich unattraktive Lebensräume. Parkflächen und Straßen machen große Flächen aus und die Bewegungsräume der Menschen verlagern sich zusehens nach drinnen – wo sie eben bis vor wenigen Jahrzehnten nie in diesem Maß waren.

Und noch ein Problem tischt die Mobilitätsexpertin Diehl auf: Der Fokus auf das Auto hat dafür gesorgt, dass es entweder keine bis kaum Alternativen gibt. Fahrradinfrastruktur, Fußwegenetz und öffentlicher Nahverkehr lassen zu wünschen übrig. Auch die Versorgung vom Nahrungsmittel bis zur Arztpraxis ist in vielen Regionen so ausgedünnt worden, dass ohne Auto kein Auskommen mehr ist. Weite Fahrwege und fehlende Alternativen schaukeln sich zur Autopflicht auf.

Statt Unflexibel und teuer …

Ein Blick hinter die Kulissen verrät allerdings: Viele Menschen wollen eigentlich nicht Auto fahren. Aber sie müssen, weil die automobile Monokultur die Alternativen ausradiert hat. Zwar denken viele zunächst an das Leben auf dem Land, aber Diehl zeigt anhand von vielen Gesprächen, die sie geführt hat, dass der Autofokus den Menschen praktisch überall Probleme bereitet — er hat nur unterschiedliche Gesichter.

Der Autofetisch macht das Land vielleicht mobil auf vier Rädern, aber sonst unflexibel. Die Beispiele fallen teil geradezu peinlich aus. Diehl erzählt von einem ehemaligen Arbeitgeber, der zwar viel Geld in die Hand nehmen konnte, um Führungskräften einen Dienstwagen vor die Tür zu stellen. Die Personalabteilung war aber heillos überfordert, als Diehl statt dessen eine Bahncard haben wollte. In derselben Spur sind Arbeitsämter unterwegs: Wer ohne Auto oder gar Führerschein einen Job sucht, gilt in Deutschland als nicht vermittelbar.

Ob Sie es glauben oder nicht: Es sind immer nur 10 Prozent aller Autos gleichzeitig unterwegs. Wenn Sie im Stau stehen und nicht vorankommen, wenn Sie vor und hinter sich nur das Blech auf der Straße stehen, dann denken Sie daran: Es sind nur zehn Prozent, die vorwärts kommen wollen. Die anderen 90 Prozent stehen gerade irgendwo herum.

Vermutlich wird der Vorwurf nicht weit sein, Katja Diehl wolle mit „Autokorrektur“ das Auto vermiesen. Dann sollte man das Buch erst recht lesen, denn sie macht immer wieder deutlich, dass es genau darum nicht geht. Sie macht vielmehr deutlich, dass die Autofokussierung den Leuten keine Wahlfreiheit über ihre Mobilität gibt — das ist ihr Schlüsselpunkt. Im Schnitt wird ein Auto pro Tag kaum 45 Minuten bewegt und pro Auto sitzen statistisch gesehen nur 1,2 Personen drin. Effizient und wirtschaftlich ist das nicht. Vor allem nicht, wenn man sich anschaut, dass pro 1,2 Personen immer mehr Material pro Auto auf die Straße gestellt wird.

… lebenswert und vielfältig

Eine Autokorrektur würde nicht funktionieren, wenn nicht auch die Alternativen und Visionen vorgestellt würden. Das Buch zeigt, dass die Werkzeuge dafür ebenso längst da sind wie die Vorbilder. Jan Gehls Stadt nach dem menschlichen Maß taucht als Grundlage ebenso auf wie zahlreiche Praxisbeipiele aus Städten, in denen der Umbau angestoßen wurde oder solchen, die bereits erfolgreich umgebaut sind. Amsterdam zum Beispiel gilt bereits weltweit als Vorbild, Barcelona und Paris bauen gerade um. Aus Wien berichtet Diehl, dass sich junge Familien vor allem in verkehrsberuhigten oder -freien Vierteln ansiedeln.

Auch das Shopping macht sie zum Thema. Gegen autofreie Straßen läuft der Einzelhandel nach wie vor gerne Sturm. Alle haben Angst, sie hätten Umsatzeinbußen; dabei überschätzen Ladeninhaber:innen die Wirkung des Autoverkehrs auf ihre Geschäftserfolge massiv. Diehl verweist darauf, dass etwa 80 Prozent des Umsatzes im lokalen Einzelhandel in Wirklichkeit von Menschen kommt, die zu Fuß, mit dem Rad, mit Bus oder Bahn unterwegs sind (in manchen Städten geht das gar hoch bis 91 Prozent und Städte, die autofreie Einkaufsstraßen etabliert haben, verzeichnen attraktive Umsatzsteigerungen).

Sicherer werden öffentliche Räume obendrein, sobald sie belebter sind. Das geschieht vor allem dann, wenn die strikte Trennung von reinen Bürovierteln, reinen Wohnvierteln oder reinen Einkaufsgebieten aufgeweicht wird.

Seit der Jahrtausendwende sind die Kosten für Anschaffung und Unterhalt eines Kfz um etwa 36 Prozent gestiegen, die ÖPNV-Preise hingegen um knapp 80 Prozent.

Das Handwerkszeug: Zahlen, Fakten und Gespräche

Um die Ansätze für eine Autokorrektur zu sammeln, gibt Diehl unterschiedliche Aspekte mit auf den Weg. Das Klima ist nur eines davon — es sollte uns Grund genug sein. Mit verschiedenen Zahlen zeigt sie die Schieflage in der Förderung von Mobilität, wie beispielsweise das Dienstwagenprivileg. Das 9-Euro-Ticket ließe sich inzwischen ergänzen, sowohl für Preigestaltung als auch komplexe und kleinteilige Tarifzonen. Das Auto erfährt eine finanzielle Unterstützung, an die nichts anderes herankommt. Und das nur, so Diehl, weil man das Denken an das Auto so gewohnt sei.

Einen großen und wichtigen Teil nehmen ihre Gespräche mit unterschiedlichen Menschen ein. So macht Katja Diehl mit individuellen Beispielen deutlich, wo es im großen System klemmt. Fair ist Mobilität in Deutschland nicht. Klimafreundlich ist sie gar nicht, bezahlbar zumindest oft nicht und inklusiv ebenso wenig. Da sind Familien, die hervorragend mit dem Fahrrad zurecht kämen und nach einem Umzug plötzlich ohne ÖV dastehen. Da sind Menschen, die gar nicht Autofahren wollen, aber keine Wahl haben. Sie kämen nicht einmal zum Arzt, denn „weil ja jeder ein Auto hat“, werden Einkaufsmöglichkeiten, Ärzte und andere Angebote massiv zentralisiert. Diehl spricht mit Frauen und Trans-Menschen, die im ÖV bedroht und belästigt wurden und für die das Auto ein zentraler Sicherheitsaspekt ist.

Auch zum Problem gehören Wegstrecken, die bei der Stadtplanung zu wenig berücksichtigt werden. An den morgendlichen Berufsverkehr denken die Gemeinden immer. Die Zickzackwege der alltäglichen Besorgungen untertags gehen verloren. Eine große Rolle spielt dabei die Besetzung der Teams: Kommen die (fast immer männlichen Mitglieder) morgens mit dem Auto zur Arbeit, haben sie Kinder, Mütter oder Senior:innen und deren Bedürfnisse gar nicht erst auf dem Radar.

Vieles davon ist schon länger bekannt und Diehl kann, zum Beispiel bei Rollstuhl-gängigen Zügen, nur erschöpft darauf hinweisen, dass außer Absichtserklärungen noch nicht viel passiert ist. Dass ziemlich viel zu tun ist, weil es jahrelang liegengeblieben ist, ist keine Ausrede dafür, gar nicht erst mit Verbesserungen anzufangen.

Klar, ist es immer schwierig, Gewohnheiten zu hinterfragen und zu ändern. Überlegen Sie mal, wie schön unsere Welt sein könnte, wenn wir es anders machen! Das Gute: Wir können es anders machen — gemeinsam!


Addendum: Und die Schweiz?

Katja Diehls Autokorrektur widmet sich komplett der deutschen Mobilität. Mich würde es interessieren, wie die Schweiz im Vergleich abschneiden würde. Auch hier sind die Autos prozentual überdurchschnittlich vertreten, nochmals teurer als in Deutschland und überdurchschnittlich groß. Und die SBB zumindest für Wenigfahrer oder Geringverdiener (das heißt, ohne Halbtax-Abo) ziemlich teuer, wenn eine Pflichtfahrt anfällt.

Hier in der Stadt ist alles hervorragend fußläufig, so lange man zentral wohnt. In dem Dorf, in dem ich mehrere Jahre gewohnt habe, war trotz einer Einwohnerzahl von damals nur 800 Menschen ein Supermarkt da, ein Friseur, eine Bibliothek, ein Restaurant, ein kleines Freibad und eine Schule. Den ÖV hätte ich tagsüber allerdings als „deutsch“ klassifiziert. Die zuständige Postfiliale mit dem ÖV zu erreichen, hätte bei nur 3 Kilometern Luftlinie fast eine Stunde gedauert. Zum nächstgelegenen Stadtzentrum hätte ich damals für 6 Kilometer eine Stunde gebraucht, zur doppelt so weit entfernten Stadt in der anderen Richtung paradoxerweise nur 35 Minuten.

Über einen Tipp zu einer länderspezifischen „Autokorrektur“ freue ich mich.


Mehr zum Thema Stadt
Verkaufte WeltDie Stadt der ZukunftSwim City
Städte für MenschenAls ich einmal in den Canal Grande fiel

Bibliografische Daten

Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397142-2
Erstveröffentlichung: 2022

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Close
Cookie-Einstellungen
Auf dieser Website werden Cookie verwendet. Diese werden für den Betrieb der Website benötigt oder helfen uns dabei, die Website zu verbessern.
Alle Cookies zulassen
Auswahl speichern
Individuelle Einstellungen
Individuelle Einstellungen
Dies ist eine Übersicht aller Cookies, die auf der Website verwendet werden. Sie haben die Möglichkeit, individuelle Cookie-Einstellungen vorzunehmen. Geben Sie einzelnen Cookies oder ganzen Gruppen Ihre Einwilligung. Essentielle Cookies lassen sich nicht deaktivieren.
Speichern
Abbrechen
Essenziell (1)
Essenzielle Cookies werden für die grundlegende Funktionalität der Website benötigt.
Cookies anzeigen