Jan-Philipp Sendker – Akikos stilles Glück | Lesung

von Bettina Schnerr
4 Minuten Lesezeit
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Akiko ist neunundzwanzig und Single aus Überzeugung. Sie schätzt ihre selbstgewählte Einsamkeit und ihr unauffälliges Aussehen, dass sie zwischen all den anderen Menschen verschwinden lässt. Persönliche Kontakte pflegt sie nur wenige und am wichtigsten ist ihr nach dem Tod ihrer Mutter die Kollegin Naoko. Eines Abends zeigt Naoko ein besonderes Fotoalbum: Die junge Frau hat geheiratet – und zwar sich selbst.

Die Idee der Solo Weddings war ein Startpunkt für Jan-Philipp Sendker, wie er vor Kurzem auf einer Lesung in Kreuzlingen erzählte. Eine kleine Notiz machte den Autor auf diesen Trend unter Japanerinnen aufmerksam: „Ich habe mich natürlich gefragt, wer macht das und warum?“ Mit dem Land verbindet ihn eine über 30-jährige Beziehung. Er arbeitete von Hongkong aus als Asien-Korrespondent und besuchte Japan erstmals im Januar 1995 nach dem schweren Erdbeben in Kobe. Ganze zehn Tage blieb er dort und, wie er sagt: „Auch für einen erfahren Korrespondenten wie mich war das eine Herausforderung.“

Die vielen Nachbeben setzten ihm ebenso zu wie das Ausmaß der Zerstörung in der Millionenstadt. Was ihn aber am meisten beeindruckte, war der Umgang der Menschen damit: mit einer unglaublichen Ruhe und Würde. Selbst in behelfsmäßigen Papphäusern werden beim Hereinkommen die Schuhe ausgezogen. „Ich war in sicher siebzig, achtzig Ländern, aber keines war so anders als Japan,“ sagt er. Jahrelang schlug er aus dieser Faszination heraus immer wieder Themen vor, die ihn nach Japan führen sollten.

Intensive Recherche zu Hikikomori

Ein zweiter Schwerpunkt des Romans sind die Hikikomori, Menschen, die sich nicht in der Lage sehen, aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und sich in ihren vier Wänden verkriechen. Akiko trifft eines Abends auf ein bekanntes Gesicht aus ihrer Schulzeit in Nara: Kento Kobayashi, einst ihr heimlicher Schwarm. Immer ein zurückgezogener Junge und sogar jetzt jemand, dem das Wiedererkennen unangenehm zu sein scheint. Jener Kento lebt als Hikikomori ganz in Akikos Nähe, geht fast nur nachts auf die Straße. Die beiden kommen wieder in Kontakt – aber ganz klar zu Kentos Bedingungen.

Eine Freundin aus Kobe vermittelte Sendker Kontakte, damit er dem Leben und Denken der Hikikomori näher kommen konnte. Die Zahl der Einzelgänger wird auf rund 1,5 Millionen geschätzt; gleichzeitig geht man von einer hohen Dunkelziffer aus. Fast ein Jahr recherchierte er, bevor überhaupt die erste Zeile Romanzeile zustande kam, und er hat davon insgesamt über neun Wochen im Land verbracht. „Alleine für dieses Buch habe ich acht Notizbücher gefüllt“, erzählt er. „Im Gegensatz zu meinen anderen Büchern sollte hier keine westliche Figur eine Rolle spielen.“

Die Philosophie der Selbsterkennung

„Was will ich mit meinem Leben machen?“ fasst Sendker die zentrale Frage seiner fast zwei Dutzend Gesprächspartner:innen zusammen. Keine oberflächlichen Gespräche, erinnert er sich: „Teils haben wir drei, vier Stunden miteinander verbracht und sie haben mir signalisiert, dass sie dabei selbst über Fragen nachgedacht haben, über die sie sonst nicht nachdenken.“ Am schnellsten wächst die Gruppe im Alter über 50 Jahren, stellt er fest. Aber es sind keine Depressionen im Spiel: „Ich habe eher schüchterne, sehr sensible Menschen kennengelernt, die dem Erwartungsdruck der Gesellschaft nicht entsprechen.“

Viele der gewonnenen Erkenntnisse stecken nun im Austausch zwischen Kento und Akiko. Als Kento erfährt, dass Akiko sich selbst heiraten möchte, hakt er nach: „Du willst niemanden heiraten, den du nicht kennst, oder?“ Und er legt nach: „Du verbringst seit fast dreißig Jahren Zeit mit dir. Das bedeutet aber nicht, dass du dich kennst.“

Aber nicht alle Recherchen gestalteten sich so intensiv. „Ich war Trauzeuge bei gut einem Dutzend Solo Weddings“, berichtet Sendker. Nach seinen Beobachtungen und Gesprächen sieht er vor allem drei Gruppen von heiratswilligen Frauen. Die Jüngeren gehen spielerisch an das Event heran. „Das hat etwas von Cosplay und wird recht locker gehandhabt“, findet der Autor. „Ab etwa Ende Zwanzig werden die Solo Weddings schon etwas ernster.“ Die gebuchten Zeiten werden länger und die Hochzeit hat für viele eine ganz andere Bedeutung. Naoko fällt für ihn in die dritte Gruppe. „Solche Frauen haben mehr und andere Erfahrungen gemacht, haben ihr Leben verändert und brauchen niemanden mehr dazu“, meint er. „Eine Solo Wedding hat viel von Selbstermächtigung.“

Hindernisse auf dem Weg zu sich selbst

Beim Versuch, Kentos nachdrückliche Fragen zu beantworten, entdeckt Akiko im Nachlass ihrer Mutter Dokumente, die die ihr bekannte Familiengeschichte auf den Kopf stellen. Auch hier spielt eine typisch japanische Gepflogenheit eine Rolle, die Sendker auf der Lesung nicht vorausnehmen wird (ich folge an dieser Stelle seinem Beispiel). Akiko jedenfalls nimmt -wenn auch schweren Herzens- die Herausforderung an, an dieser Stelle Klarheit zu schaffen.

Jan-Philipp Sendker - Akikos stilles Glück

Bevor der Roman endgültig an den Verlag ging, hatten ihn fünf Japaner:innen gegengelesen. Besonders eine hat Spuren hinterlassen: 48 „Nein“ von ihr zählte Sendker. „Die enstprechenden Passagen flogen alle raus und wurden korrigiert“, sagt er. Auf diese Weise gelang ihm eine hohe Authentizität in den Details. „Akiko würde in Japan nie mit den Essstäbchen spielen“, nennt er als Beispiel. Das lassen die Tischsitten nicht zu, mit denen bereits die jüngsten Kinder vertraut gemacht werden. Also ließ er sie stattdessen mit der Serviette spielen – etwas, das nervöse Japanerinnen tatsächlich tun würden.

Jan-Philipp Sendker schreibt bereits am zweiten Band, denn die Geschichte aus Japan möchte er wie viele seiner bisherigen Romane ebenfalls als Trilogie anlegen: „Ich schreibe sehr intuitiv, kenne also noch nicht den Gesamtbogen.“ Mit Akiko, Kento und Naoko (sowie dieser einen nicht gespoilerten Person) verfügt er über wirklich interessante Figuren, mit denen er eindrucksvoll über die Individualität, Identität und Rollenverständnisse der Gesellschaft reflektiert.

Bibliografische Angaben

Verlag: Blessing
ISBN: 978-3-89667-629-0
Erstveröffentlichung: 2024

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