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Jasper Fforde – Der Fall Jane Eyre

Jasper Fforde – Der Fall Jane Eyre

Jasper Fforde - Der Fall Jane Eyre

Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der Literatur so wichtig genommen wird, dass es eine Spezialpolizei gibt, um sie vor Fälschern zu schützen? Als Geheimagentin Thursday Next ihre neue Stelle in Swindon antritt, ahnt sie schon, daß ihr die größte Herausforderung ihrer Karriere bevorsteht: Niemand anderes als der Erzschurke Acheron Hades hat Jane Eyre aus dem berühmten Roman von Charlotte Brontë entführt, um Lösegeld zu erpressen. Eine Katastrophe für England, das mit dem seit 130 Jahren tobenden Krimkrieg schon genug Sorgen hat. Aber Thursday Next ist eine Superagentin: clever und unerschrocken. Und wenn sie wirklich mal in die Klemme gerät, kommt aus dem Nichts ihr von den Chronoguards desertierter, ziemlich anarchistischer Vater, um für ein paar Minuten die Zeit anzuhalten.

Rezension

Das erste, was an diesem Buch auffällt, ist die Farbe. Ein knalliges Orange, intensiv und schreiend. Vermutlich auch der Grund, warum ich im Buchladen zugelangt hatte. Das zweite ist der Kassenbeleg, der aus diesem Buch herausfällt. Datiert vom August 2008, ausgestellt von einem Buchladen in Winterthur, den es seit 2014 nicht mehr gibt. Das dritte ist folglich die Frage, warum ich dieser Signalfarbe in den letzten acht Jahren nie nachgegeben habe. Denn es stellt sich eindeutig heraus, dass es ein Fehler war, so lange mit der Lektüre zu warten. Hätte ich besser gleich gelesen, dann würde ich heute viel mehr Bände von Thursday Next kennen und hätte nicht das Gefühl, etwas verpasst zu haben. Doch damit muss ich nun zurecht kommen; zum Glück aber sind die neu aufgelegten Bücher der Serie immer noch bunt und einigermaßen draufgängerisch — und folglich immer noch erhältlich.

Das vierte ist die Herausforderung, dem Buch mit eigenen Worten halbwegs gerecht zu werden. „Durchgeknallt“ alleine reicht nicht, „phantasievoll“ auch nicht, „spannend“ muss aber dazu und „facettenreich“ klingt viel zu brav. Werfen wir das alles mal in einen Topf und gucken, was dann dabei herauskommt.

Die Welt an sich ist bereits speziell im Aufbau. Thursday Next arbeitet Mitte der 1980er Jahre in England. Auf der Krim ist seit über 100 Jahren Krieg, Wales ist eine eigene Republik, stärker abgeschottet als es die DDR je war. Es gibt den Geheimdienst SpecOps, von dessen 30 Teilbereichen viele nicht einmal anderen SpecOps-Abteilungen bekannt sind. Irgendwie gehen Zeitreisen, aber kaum einer weiß, wie es geht, es gibt Zeitlöcher und Zeitverzerrungen und offenbar auch verschiedene Realitäten. Thursdays Vater wartet beispielsweise mit einem Beatles-Album von 1978 auf, obgleich Thursday von deren Trennung anno 1970 überzeugt ist. In Thursdays Welt gilt außerdem, dass Menschen enorm für ihre Überzeugungen einstehen und da gibt es schon mal Prügeleien oder gar Straßenunruhen, weil sich die Anhänger verschiedener Kunststile nicht ausstehen können. Trotz Abteilungsleitern und Politikern gibt ein riesiger Mischkonzern aus der Industrie den Ton an und in manch einer Szene wirkt das Buch von 2001, als würde sich unsere Realität von 2016 bemühen, die Fiktion einzuholen. Vieles ist also irgendwie wie bei uns und ansonsten ist alles anders.

Besonders auffällig ist die Liebe der Menschen zur Literatur. Gefälschte Originale werden gehandelt wie hierzulande Drogen und zwei Paletten Samuel Johnson-Fälschungen (den heute kaum noch jemand kennt) haben in Ffordes Welt einen Straßenverkaufswert von satten 300.000 Pfund. Das mit am leidenschaftlichsten verfolgte literarische Thema ist die Urheberschaft der Werke Shakespeares und die so genannten Baconiers missionieren penetrant wie die Zeugen Jehovas, um möglichst viele von ihrer Theorie zu überzeugen. Es ist also nur logisch, dass die SpecOps eine Abteilung zum Schutz der Literatur unterhalten und deren Mitarbeiter haben mit all den Fälschungen ziemlich viel zu tun. Was die meisten Geheimagenten (außer Thursday Next und einigen wenigen anderen) allerdings nicht wissen: Man kann durchaus in Geschichten einsteigen und die Romanfiguren besuchen. Genau das macht der schlimmste Schurke Englands. Acheron Hades manipuliert den Dickens-Roman „Martin Chuzzlewit“ und fängt, weil das so gut läuft, auch noch bei „Jane Eyre“ damit an. Doch wer im Originalmanuskript tobt, verändert automatisch alle Ausgaben des Werkes und Thursday Next muss versuchen, den Schaden zu begrenzen. Denn was einmal umgeschrieben ist, lässt sich so einfach nicht mehr ändern. Thursday weiß das aus eigener Erfahrung nur zu gut.

Fforde hat mit damit eine fabelhafte Idee entwickelt: Als Leser dieses Romans nimmt man am Entstehen einiger Klassiker teil. Denn die Jane Eyre, die wir heute kennen, hatte —Fforde zufolge— Charlotte Brontë ganz anders entworfen. Und bei Charles Dickens gab es früher auch mal eine Hauptperson mehr. So ein kreatives Toben habe ich trotz Douglas Adams oder J.K. Rowling wissentlich noch nicht erlebt. Die Entwicklung anderer Welten wohl, die Verquirlung sämtlicher Wahrnehmungen nach Manier von Pippi Langstrumpf ohne Zuhilfenahme von Außerirdischen oder explizit magischer Lebewesen aber noch nicht. Bei Fforde kann im Zweifelsfall jeder Mensch der Auslöser irgendeiner Verwerfung sein. Genau das empfinde ich als große Besonderheit und als gleichzeitig lustig, unterhaltsam, raffiniert und herrlich unbefangen und ausgelassen.

Wer meint, dass Romane mit irgendwelchen Bibliotheken auf Rädern Loblieder auf Literatur seien, hat dieses ausgeflippte Buch noch nicht gelesen. Hier lieben die Menschen die Bücher wirklich — dieses Buch bietet tatsächlich, was man in den anderen Romanen sucht. Hier dreht sich „alles“ um Bücher und ihren Wert und Fforde treibt die Literaturliebe dermaßen gekonnt auf die Spitze, dass ich ihn im Olymp auf ewig sitzen lasse.

Bibliografische Angaben

Verlag: dtv
ISBN: 978-3-42321-014-0
Originaltitel: The Eyre affair
Erstveröffentlichung: 2001
Deutsche Erstveröffentlichung: 2004
Übersetzung: Lorenz Stern

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