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Bleisatz

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Lesen mit zehn Augen

Lesen mit zehn Augen

Zum 200. Geburtstag von Louis Braille

„Lesen mit 10 Augen“ überschrieb die Stadtbibliothek Winterthur eine Ausstellung zum 200. Geburtstag von Louis Braille, dem Erfinder der Braille-Schrift. Ich hatte Gelegenheit, die Exponate während der nur sechs Tage währenden Ausstellung zu sehen.

Wer es selbst schon probiert hat, weiß: Braille sieht schön aus, ist aber für Sehende schwer fühlbar. Die fehlende Übung macht das Lesen der Braille-Schrift zu einer interessanten Erfahrung mit dem verwunderten Gedanken daran, ob die kleinen, eng gesetzten Punkte mit den Fingerspitzen wirklich voneinander unterscheidbar sind. Die Darstellung ist fühlbar, aber kaum zuzuordnen: Gehören zwei Punkte noch zu demselben Buchstaben oder schon zum nächsten?

Die einzelnen Zeichen sind aus sechs Punkten aufgebaut, zwei Punkte breit, drei Punkte hoch. Zwei Punkte liegen dabei nur 2,5 mm auseinander; der Abstand zwischen den Punkten zweier Buchstaben ist nur einen einzigen Millimeter breiter. Ich habe es verblüfft nachgemessen: So fein also kann eine Fingerspitze tasten, wenn man sie trainiert.

Sparsamer Zeichenvorrat

Dabei ist es beileibe nicht so, dass Louis Braille, der Erfinder der Blindenschrift, verwirrend viele Zeichen entwickelt hätte. Sein wesentlicher Zeichenvorrat besteht aus nur rund 50 Zeichen. Neben den 26 Zeichen für das Alphabet und den Satzzeichen sind auch solche für bestimmte Buchstabenkombinationen vorgesehen; sie beschleunigen das Lesen und Erkennen. So werden sch, ch oder ei zu je einem Sonderzeichen zusammen gezogen und auch für die Zahlen gibt es einen Kniff. Eigentlich bestehen die Zahlen von 1 bis 9 und 0 aus den Buchstaben A bis J. Man muss sich also nicht zehn neue Zeichen merken, sondern nur eines: Vier Punkte in einer bestimmten Anordnung signalisieren, dass nachfolgend statt der Buchstaben Zahlen gelesen werden müssen. Es gibt auch Zeichen, die mehrfach belegt sind und bei denen der Zusammenhang zeigt, welche Bedeutung das Zeichen annimmt.

Buchgestaltung einmal ganz anders

Bücher in Brailleschrift sind aus dünnen Kartonseiten gebunden und im Vergleich zu typischen Buchexepmlaren in meinem heimischen Regal einiges größer und schwerer. Aus einem 500-seitigen Hardcover in Schwarzschrift (Begriff für die Schrift der Sehenden) wird schnell ein vierbändiges Werk in Brailleschrift. Erstaunt hat mich, dass bei Büchern für Sehbehinderte (die ohne sehende Begleitung gelesen werden) durchaus beide Seiten des Kartons geprägt sind. Hier unterscheidet der Leser, ob die Punkte erhaben sind und damit zur gerade gelesenen Seite gehören, oder ob sie vertieft sind und bereits zur darauffolgenden Seite gehören. War schon das reine Tasten und Unterscheiden einzelner Punkte für mich schwierig, so geriet das Unterscheiden der unterschiedlichen Punkte für mich beim Leseversuch zu einer unlösbaren Aufgabe. Die Ausstellung habe ich jedenfalls staunend verlassen, weil mir die Exponate eine völlig neue literarische Welt gezeigt haben.

Cover: Das schwarze Buch der Farben von Menena CottinEine attraktive Möglichkeit, die Braille-Schrift einmal zu erkunden, ist zum Beispiel „Das schwarze Buch der Farben“ von Menena Cottin (Verlag Fischer Schatzinsel, Frankfurt), das ich auf der Ausstellung gesehen habe. Wie man am extra großen Bild des Covers vielleicht schon sieht, ist einer der Kniffe, Strukturen erhaben zu drucken, sodass Texte und Bilder mit den Fingern ertastbar sind. Das Buch stelle ich in einer eigenen Rezension separat vor.

Das Buch gibt es übrigens auch in der DAISY-Fassung als Download beim Argon Verlag. DAISY steht für Digital Accessible Information System und ist der Name für einen weltweit gültigen Standard für navigierbare Multimedia-Dateien. Mit Hilfe von Software und kleinen Bedienkonsolen kann sich ein Nutzer zwischen Kapiteln, Lesezeichen, Sprechmodi etc. bewegen. DAISY wurde in den 1990er Jahren von einer schwedischen Blindenbücherei entwickelt.

Schnell erfunden, doch lange nicht anerkannt

Louis Braille wurde am 4.1.1809 in Coupvray bei Paris geboren. Braille selbst erblindete im Alter von drei Jahren nach einer Verletzung am Auge und seine Vorliebe für Geschichten wollte er nicht durch reines Vorlesen lassen pflegen. Er wollte selber lesen. Die Idee zu einer haptischen Darstellung kam ihm, als ein Freund von einer Postkarte mit geprägten Buchstaben erzählte. Doch diese Buchstaben mussten vergleichsweise hoch geprägt sein, um erkennbar zu sein. Braille expermimentierte ein Weile, bis er mit 16 Jahren tatsächlich eine praktikable Blindenschrift entwickelt hatte.

Doch bis sich die Schrift durchsetzte, dauerte es viele Jahre. Erst zwei Jahre vor seinem Tod wurde die Brailleschrift 1850 offiziell für den Unterricht an französischen Blindenschulen eingeführt. In Deutschland erfolgte die offizielle Einführung 1879.


Foto: Bettina Schnerr

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