Was für eine Ehrfurcht, wenn der Name Leonardo da Vinci fällt: Er gilt als Universalgenie und über 80 Erfindungen werden ihm zugeschrieben. Darunter Hubschrauber, Druckerpresse, U-Boot, Kräne, Schaufelradboot. Als sich am 2. Mai dieses Jahres der Todetag des Italieners zum 500. Mal jährte, mangelte es nicht an Sondersendungen im Radio oder Fernsehen und natürlich auch nicht an Büchern. Unter den Büchern, die im „da Vinci-Jahr“ auf dem Markt kamen, fiel mir jenes von Matthias Eckoldt besonders auf: Leonardos Erbe. Vor allem wegen des Untertitels „Die Erfindungen da Vincis – und was aus ihnen wurde„, der eine Einordnung der Ideen verspricht.
Historiker haben wohl schon öfter überlegt, wie sich da Vincis Schaffenskraft erklären ließe. Unter anderem gibt es die Theorie, viele Erfindungen könnten eigentlich von anderen Menschen stammen, seien über die Zeit aber ihm zugeschrieben worden. Ähnliche Überlegungen kennt man bereits von Shakespeare-Werken oder Mozart-Kompositionen. Die beliebteste ist freilich jene, er sei tatsächlich das Universalgenie gewesen, für das man ihn weithin hält. Matthias Eckoldt schreibt bereits im Vorwort, was er denkt: Die Legende bestünde aus einer Reihe von Missverständnissen und sei lediglich ein Werk der Neuzeit.
Der hellsichtige Zeitgenosse
Bevor Eckoldt auf die Unterlagen von da Vinci selbst eingeht, berichtet er von der ersten Biografie, die dessen Schaffen würdigt. Darin, so schreibt er, stünde kein Ton von technischen Errungenschaften, Prototypen oder Ähnlichem. Der Autor, der da Vinci in den höchsten Tönen lobte, schreibe fast nur über die Fähigkeiten als Maler und Zeichner. Für Eckoldt ein erstes deutliches Indiz. Wäre da Vinci tatsächlich ein technisch so versierter Tüftler gewesen, hätten die Zeitgenossen das ganz sicher selbst kapiert und entsprechend honoriert.
Danach geht das Buch auf einzelne Entwürfe ein, die sich in da Vincis Notizbüchern finden. Diese sortiert er nach den Anwendungsbereichen Wasser, Wind, Krieg und Kraft.
Da Vincis Notizbücher verteilten sich nach dessen Tod bald in die verschiedensten Ecken. Vieles verschwand auf Nimmerwiedersehen, andere Teile wurden in Bibliotheken vergessen, wieder andere gingen in Privatsammlungen, ohne dass man über die Jahrhunderte großartig davon Gebrauch gemacht hätte. Eine Skizze, die als „Erfindung des Autos“ gilt, tauchte zum Beispiel erst 1928 auf. Da fuhr das Auto von Carl Benz bereits von ganz alleine und ohne Zutun des Italieners.
Brillante Zeichnung oder tolle Mechanik?
Ein wesentlicher Kritikpunkt an da Vincis Arbeiten ist bei Matthias Eckhold immer wieder das mangelnde Verständnis mechanischer Prozesse, das sich in den Zeichnungen zeigt. Ein Beispiel dafür ist ein Schaufelradboot, das da Vinci gezeichnet hatte. In einem skizzierten Rumpf sind weitaus präziser gezeichnete Walzen und Zahnräder zu sehen, die ineinander greifen. Dennoch fehlt letztlich der Beweis dafür, dass der Entwurf funktionstüchtig ist oder überhaupt als ernst gemeinter Entwurf gedacht war. Der eigentliche Antrieb für die Paddel nämlich fehlt.
Wer dieses Problem auf Basis der Zeichnung lösen will, stößt an Grenzen. Entweder ermöglicht das System den Zahnrädern keine kontinuierliche Bewegung, was aber erforderlich wäre. Oder sie würden sich auf Grund ihrer Befestigung in unterschiedliche Richtungen bewegen; das kann nur leider nicht sein, weil sie an derselben Achse stecken. Ingenieure bauten das Modell 2006 in einer Computersimulation um, besserten die missliche Lage nach und konnten trotzdem nicht helfen. Ihre Lösung hätte im besten Fall zu einem betrunkenen Watscheln geführt, mit Geradeausfahren hätte sie wenig zu tun gehabt.
Ein genial guter Zeichner
Fehlerhafte Konstruktionen wie diese deckt Eckoldt zahlreich auf. Dazu kommen „Erfindungen“, die eigentlich schon längst gemacht worden waren. Kräne beispielsweise kannten die Italiener bereits eine Weile dank ihrer Kirchenbauten und Bücher wurden bereits vor Leonardos Geburt gedruckt.
Nach seiner Durchsicht der Notizen ist Leonardo da Vinci für Matthias Eckoldt klar ein brillanter Zeichner, der neugierig aufschnappt, sehr gut beobachtet und diese Beobachtungen zu Papier bringen kann. Auf dem Weg zum Papier veränderte der Zeichner das, was er sah, wurde kreativ, fügte hinzu und variierte. Mehr mit Lust am Zeichnen, weniger aus echtem Sachverstand. Bei der Bootszeichnung war da Vinci möglicherweise einfach nur so von Zahnradmechanik so fasziniert, dass er sie zeichnerisch erfassen musste. Ohne Hintergedanken, ohne Ziel.
Nicht zuletzt sind Notizbücher genau das: Notizbücher. Also nicht immer Papiere mit bedeutenden Niederschriften, sondern auch Papiere, auf denen Schreibfedern ausprobiert wurden, kleine Impressionen ohne Hintergedanken festgehalten wurden oder Schraffuren und Perspektiven getestet wurden. Nicht jede Zeichnung, so Eckoldt, sollte als „Entwurf“ gewertet werden, nur weil sie von da Vinci ist.
Woraus besteht nun Leonardos Erbe?
Der Geniekult stammt übrigens von Benito Mussolini, dem Leonardo da Vinci als nationales Genie bestens in das Narrativ des starken Staates mit ruhmreicher Historie passte. Umso erstaunter zeigt sich Eckoldt, dass die Legende um „Leonardos Erbe“ die Zeit des Faschismus überlebte. Spätere Interpretationen deckt er teilweise als verzweifelte Versuche auf, den Kult zu erhalten statt sich verständig mit den Zeichnungen auseinander zu setzen.
„Leonardos Erbe“ ist ein sehr gut recherchiertes Sachbuch, das ausführlich Eckoldts These untermauert: Leonardo da Vinci sei zu Recht als großartiger Maler bekannt (immerhin, er ist Urheber des derzeit teuersten Gemäldes der Welt). Ihn als Universalgenie zu bezeichnen, sei eine Überbewertung seiner Skizzen.
An dieser Stelle ein Linktipp: Paul Hübscher hat sich die Notizbücher Leonardo da Vincis vorgeknöpft in einer Ausgabe der Folio Society. Alleine aus dieser Lektüre schließt er: „Als Mathematiker war da Vinci so wenig genial wie als Physiker, weshalb alle seine Maschinen letzten Endes wenig taugen konnten. […] Da Vinci war ein Augenmensch, der genau beobachten und das Beobachtete in Wort und Bild genau wiedergeben konnte. Darin lag seine Genialität: Er war in jedem Sinne des Wortes ein „Visionär“.“
Bibliografische Angaben
Verlag: Penguin
ISBN: 978-3-328-10328-8
Erstveröffentlichung: 2019
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