Ein Päckchen Kokain liegt neben der Leiche eines jungen Mannes. Der Finder beschließt, es zu verkaufen, und verstrickt sich damit in eine Welt aus Betrug und Erpressung. Um zu überleben, muss er bald schon eine Menge Geld auftreiben. Mit einem perfiden Plan macht er sich an die schwerreichen Eltern der Leiche heran. Patricia Melos „Leichendieb“ ist ein spannender Thriller, der den Leser die moralischen Bedenken eines Mannes nachempfinden lässt, dessen kriminelle Handlungen sich wie eine Lawine steigern. Patrícia Melo bietet nicht nur ein bestechend genaues Porträt der Rauschgift-Mafia in Lateinamerika, sondern auch den Beweis, dass es manchmal nur eines winzigen Auslösers bedarf, um das Leben eines Menschen aus der Bahn zu werfen: In jedem steckt der Keim für das Böse.
Rezension
Für den Leiter eines Callcenters aus São Paulo endet die Karriere, als sich eine gedemütigte Mitarbeiterin verzweifelt in den Tod stürzt. Der Manager kommt selbst ins Hadern, flüchtet nach Corumbá, ins Grenzgebiet zu Bolivien und Paraguay, und bekommt Unterschlupf bei einem Cousin. Dort in der Pampa gibt es kaum etwas Sinnvolles zu tun. Er angelt, stöhnt über die Hitze und die Schwüle und lässt sich durch die Tage treiben. Bis er Zeuge eines Flugzeugabsturzes wird. Am Wrack merkt er, dass er dem Piloten vermutlich nicht mehr helfen kann. Eher aus einer dummen Schnapsidee heraus nimmt er den Rucksack und die Uhr des Sterbenden mit.
„Ich weiß nicht, wer es gesagt hat, aber es stimmt absolut, der Mensch ist nicht lange ehrlich, wenn er alleine ist.“
Mit diesem unüberlegten Fehltritt beginnt für den namenlosen Mann eine Serie von bösen Verkettungen und miserablen Zufällen. Er entdeckt Drogen im Rucksack und glaubt, diese mit professioneller Hilfe vertreiben zu können. Neugierig treibt er sich am Anwesen der Familie des Toten herum. Denen fällt er auf, sie verwechseln ihn mit einem Bewerber, der als Chauffeur für die Familie arbeiten will und weil er keine Anstalten macht, den Eindruck auch nur halbherzig zu entkräften, stellen sie ihn ein. Nun steht er endgültig zwischen den Fronten. Ihm gelingt keine klare und sichere Entscheidung mehr, die ihm zu Beginn den Hals hätten retten können. Ein Nein zur Familie hätte ihm ein unerkanntes Entschwinden ermöglicht – es klappt nicht. Das Entsorgen des Rucksacks hätte ihm Ruhe verschafft – es gelingt nicht. Im Gegenteil: Seine Pläne werden immer härter und gewissenloser, um seinen Kopf zu retten.
Melo schildert sehr eindrucksvoll, wie weit ein Mensch gehen kann, immer in dem Fehlglauben, mit dem nächsten Schritt werde alles besser. Jeder Schritt jedoch zieht den ehemaligen Manager noch tiefer in den kriminellen Strudel. Moralische Bedenken gibt es wohl, er windet sich, erschrickt über sich selbst. Aber niemals lange. Immer steht die Rechtfertigung vor Augen, diese eine Tat sei nicht so schlimm, weil sie zur endgültigen Lösung führe. Seine eigentliche Rettung ist die Freundin, Mitarbeiterin im Leichenschauhaus, die die Ruhe bewahrt, in das Spiel einsteigt, plant und taktiert. Eigentlich ist sie immer geradeheraus gewesen, ehrlich und unbestechlich. Doch sie muss ihren Freund aus dem Schlamassel holen und erfährt, wie ihre Kollegen bei der Polizei arbeiten. Die Rechtfertigung für alles weitere ist schnell auf dem Tisch: „… aber Tatsache ist, dass du niemanden umgebracht hast. … Das ist, was zählt.“
Fazit: Melos Analyse einen Menschen, für den das Leben mit einer einzigen Fehlentscheidung zu einem moralischen Erdrutsch führt, ist rasant und spannend und zeigt deutlich auf, wie wenig manchmal fehlt, um auf der Gratwanderung zwischen Aufrichtigkeit und Selbstbetrug heftigst auszurutschen.
Bibliografische Angaben
Verlag: Tropen
ISBN: 978-3-608-50118-6
Originaltitel: Ladrão de Cadáveres
Erstveröffentlichung: 2010
Deutsche Erstveröffentlichung: 2013
Übersetzung: Barbara Mesquita