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Jo Soares – Sherlock Holmes in Rio

Jo Soares – Sherlock Holmes in Rio

Wenn Sherlock Holmes riskiert, wegen flagranter Erregung öffentlichen Ärgernisses im Zuchthaus zu landen, wenn seine Freundin Sarah Bernhardt in gewagtem Kostüm über den Strand wandelt, wenn gar sein getreuer Watson in einem dunkeln Beschwörungszauber als erschreckend vulgäre Gottheit der Straßendirnen agiert, sind wir im Rio de Janeiro der Kaiserzeit, und es geschehen unerhörte Dinge. Ein Frauenmörder geht nachts umher, bewaffnet mit einem Dolch und einer Geigensaite, die er schamlos und verräterisch platziert – und es ist nicht ausgemacht, wie die Partie zwischen dem blutigen Serienkiller und dem legendären König der Detektive dieses eine Mal ausgeht. Jô Soares inszeniert vor dem so realen wie grellbunten Hintergrund der Belle Époque Brasilienne einen spritzigen Krimi, dessen Lösung, mein lieber Leser, keineswegs einfach ist: das einzige Abenteuer, das Conan Doyle aus Gründen des Takts nicht erzählt hat.

Rezension

Wegen eines Diebstahls reisen Sherlock Holmes und Dr. Watson nach Brasilien. Das gibt zwar wenig Anlass zur Besorgnis, aber immerhin lädt der brasilianische Kaiser ein auf Fürsprache einer guten Bekannten von Holmes: Die berühmte Schauspielerin Sarah Bernhardt gastiert im Land und ist überzeugt davon, dass Holmes diesen Diebstahl ohne Aufsehen aufklären kann. Genau das kann der Kaiser nämlich nicht brauchen, denn die gestohlene, einzigartige Stradivari-Geige war ein persönliches Geschenk von ihm selbst an seine Geliebte. Holmes‘ Ankunft und der Anlass bleiben freilich nicht unbemerkt und Kommissar Mello Pimenta nutzt die Gunst der Stunde, um Sherlock Holmes ebenfalls für seine Zwecke einzuspannen. Eine übel zugerichtete Frauenleiche ist in Rio aufgefunden worden und Pimenta ist sicher, dass er kompetente Hilfe brauchen kann.

Doch Sherlock Holmes, der in London den Kriminellen das Fürchten lehrt, schlägt sich in Brasilien mit Pleiten, Pech und Pannen herum. Seine logischen Schlussfolgerungen könnten zwar stimmen, er wählt unter verschiedenen möglichen Optionen grundsätzliche die falsche (und vor allem die jeweils wildeste) aus. Mutige Rettungseinsätze und Verfolgungsjagden scheitern an den Auswirkungen zu scharfen Essens und seine Lust an raffinierten Verkleidungen verfehlt in Brasilien völlig die Wirkung. Kurz: Sherlock Holmes tut wirklich sein Bestes, zumal er die Landessprache gut beherrscht, aber er komnmt keinen Schritt voran.

Jo Soares schickt den großen Helden fast hilflos in ein tropisches Panoptikum, wo die britischen, ausgefeilten Methoden einfach nicht greifen. Sogar eine Voodoo-Sitzung bringt fast schon sachdienlichere Hinweise zur Lösung des Falles als Holmes sie zusammenklauben kann. Seine Besprechung beim Kaiser läuft für ihn äußerst unvorteilhaft ab und dezimiert die kaiserliche Porzellansammlung und private Vergnügungen fallen wahlweise Cannabis oder alten Flüchen zum Opfer. Watson scheitert im Alltag bereits an Kleinigkeiten und kann sich nicht einmal einen ordentlichen Haarschnitt verschaffen. Es hilft dem sonst so gewieften Duo auch nicht, dass sie den heute gängigen Begriff des Serienkillers prägen und mit Ermittlungen in einer Irrenanstalt ganz neue Ermittlungsmethoden entwickeln.

Immerhin lässt Soares seinen Holmes ein großes Getränk erfinden: „Cachaça? Was zum Teufel ist das für ein Zeug?“ will dieser wissen und ihm wird von Watson zugeraten, dieses ziemlich hochprozentige Getränk nicht pur zu trinken. „Wie denn sonst? Mit Wasser verdünnt?“ – „Ich glaube, etwas Fruchtsaft wäre besser.“ Und so mixt der caipirinha Watson, der „kleine Hinterwäldler“, was seiner Meinung nach gut tut und überreicht das Getränk mit Zitrone, Zucker und Eiswürfeln: „So, Holmes, jetzt, glaube ich, können Sie das gefahrlos trinken.“

Holmes und Watson kehren unverrichteter Dinge nach London zurück und mit diesem Schachzug sowie seinen (hier nicht verratenen) Konsequenzen verpasst Soares seiner unterhaltsamen, aber auch respektlosen Parodie ein raffiniertes Ende. Es ist, so Soares, das einzige Abenteuer, auf dessen Aufzeichnungen Watson je verzichtet hat.

Bibliografische Angaben

Verlag: Insel Verlag
ISBN: 978-3-45816840-9
Originaltitel: O Xangô de Baker Street
Erstveröffentlichung: 1995
Deutsche Erstveröffentlichung: 1997

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