… mißliebigen Rentner einen willkommenen Polizisten, aus einer unerwünschten Anspielung auf das polnische Brudervolk einen Gruß an Bulgarien; er kannte die maßgeblichen Persönlichkeiten in der Hauptverwaltung Verlage, ihre Charaktereigenschaften, Vorlieben und kleinen Schwächen und kalkulierte sie in sein Schreiben ein.
Wie ergibt dieser Satz nur einen Sinn? Jemand macht sich Gedanken über ein Schreiben. Ungeklärt die Frage, was für einen Anlass es überhaupt gibt. Es sieht jedenfalls aus, als müsse er dafür sehr intensiv planen: Er kenne Charaktereigenschaften, heißt es, die er, Meno, berücksichtigen müsse. Was will er also haben, dass er so taktieren muss? Die Szenerie spielt in der DDR und Texte sind zu dieser Zeit ein Balanceakt: „Was er nicht kannte, waren die oft binnen weniger Wochen, manchmal sogar Tage wechselnden Vorgaben der gerade verbindlichen Ideologie.“ Nur der Vorgesetzte sieht es lockerer. Das macht zwar Arbeit, aber er vergleicht sich mit „Schiller und Genossen“, die auch Kompromisse hätten eingehen müssen, um ihre Werke aufgeführt zu bekommen. Nun denn, in dieser Tradition gesehen …
Ganz anders der so genannte „Alte vom Berge“. Der kommt Meno in den Sinn als einer, der ebenfalls Texte korrigieren muss. Nur wie weit ist der bereit, seine Arbeiten zu korrigieren?
Meno macht sich auf den Weg, es schneit und er beobachtet unterwegs die Leute. Den Müllwagen und die vollen Tonnen. Das Ehepaar Teerwagen, das seinen Wartburg starten will und die Kühlerhaube fegt. Den Chemiker aus der Arzneimittelfabrik, der womöglich mit einem Fön einzelne Stellen an seinem Auto freilegt. Straßen und Wege werden geräumt (die Geräuschkulisse habe ich sofort ihm Ohr). Es ist eisig kalt, satte minus 18 Grad hat Meno selbst beobachtet.
So, das war’s. Die zwei Seiten bei Uwe Tellkamp geben kaum etwas her für Vermutungen. Nur so viel: Meno scheint sich mit literarischen Texten zu befassen, die aber nirgendwo anecken dürfen. Die anfangs erwähnte „unerwünschte Anspielung auf das polnische Brudervolk“ ist möglicherweise eine textliche Panne, die schon einmal passiert ist, reaktionsschnell umgedeutet in einen Gruß an Bulgarien.
Das Buch selbst, Deutscher Buchpreis 2008, ist mächtig dick: Über 970 Seiten. Aus den beiden Seiten 98 und 99 springt aber kaum ein Anreiz, sich da heranzuwagen. Es gibt für mich keinen Haken, der sich verfängt. Keinen sprachlichen, keinen inhaltlichen. Ich kann keine Vermutungen anstellen, die ich überprüfen möchte. Vielleicht liegt es aber nun genau daran, dass es so dick ist: Wer so ausschweifend erzählt, kann sich Zeit lassen und muss auf einer Doppelseite niemanden an den Haken kriegen. Nun, nicht mein Gehirnfutter; verlassen wir doch die Szene gemeinsam mit Meno …
Er bewegte die Hände in den Taschen, die Fingerspitzen brannten im Frost trotz der guten Lederhandschuhe, von denen Richard ein „Kontingent“ über einen dankbaren Patien-…
Das Buch
Uwe Tellkamp – Der Turm
Verlag: Suhrkamp
ISBN: 978-3-518-46160-0
Erstveröffentlichung: 2008
„Open the book to page ninety-nine and read, and the quality of the whole will be revealed to you.“
— Ford Madox Ford
Im angelsächsischen Raum kennt man den Page 99-Test gut; der Blog Page 99 Test widmet sich aussschließlich dieser Idee. Im deutschsprachigen Raum nutzt Tell das Ford’sche Konzept. Bleisatz erweitert auf zwei Seiten und nein, es ist keine Rezension. Es ist eine Momentaufnahme dessen, was ein Textfragement mit mir als Leserin macht — zu einem Zeitpunkt, an dem die Story fortgeschritten ist, die Personen längst eingeführt sind.