Manchmal steht man bei seiner Buchauswahl vor besonderen Aha-Erlebnissen. Bei mir passiert das meist dann, wenn ich Titel finde, die -ob zufällig oder nicht- eine großartige Paarung abgeben. Hier ist so eine:
Das Buch der Schurken vs. 100 Greatest Literary Detectives
Beide Bücher stellen je 100 Romanfiguren vor, die in die Literaturgeschichte eingingen. Wie könnte es anders sein, so unterschiedlich die Typen sind, um die es geht, so unterschiedlich sind die Bücher gemacht. Und trotzdem, fand ich, könne ich das eine nicht ohne das andere lesen.
Das Buch der Schurken mutmaßt, wie es sich eine Welt ohne Schurken vorstellt: „Im Herrn der Ringe würde vermutlich ununterbrochen gepicknickt.“ Der Knackpunkt: Damit hätte sich das 1500 Seiten dicke Werk sicher niemals gut verkauft. Die Widersacher machen die Literatur erst spannend, nachhaltig und fesselnd. Doch halt: Ohne jene, die alles wieder zum Guten richten, geht es genauso wenig.
Den grössten Ängsten ins Gesicht zu schauen, hat etwas, das einem guttut. Wenn die Ängste nur hinterher auch bitte wieder weggehen und schön fiktional bleiben.
… sagt Literaturwissenschaftlerin Christine Lötscher. Wichtig ist außerdem, dass am Ende irgendetwas Gutes dabei herumkommt. Entweder der Schurke bekommt eine gerechte Strafe verpasst (im Krimi eben durch die Ermittler) oder die Menschen, die zuvor gelitten haben, bekommen eine Chance auf einen wie auch immer gearteten Neuanfang.
Dokumentation der Schurken
Martin Thomas Pesl begegnete bei seiner Zusammenstellung einem Kernproblem: Wer ist auf der Bosheitsskala wie einzuordnen? Er fand immerhin nicht nur eine unüberschaubar große Auswahl an Antagonisten, die den freundlichen Helden das Leben schwer machten. Sie haben allesamt unterschiedlichste Beweggründe, die nicht immer in Mord und Totschlag gipfeln. Kurzerhand stellte er zwölf Kategorien auf, um der Flut Herr zu werden. Er fand die Gierigen. die Despoten oder die Egoschweine, aber auch die Erziehungsberechtigten, die verrückten Wissenschaftler oder die Könige des Verbrechens.
In der Einleitung erklärt Pesl die Typisierung, denn „Schurke ist nicht gleich Schurke“. Warum der stinkreiche Schnösel zum Feindbild taugt oder Weltherrschaftsphantasien tiefe Abneigung auslösen, ist ist vergleichsweise einfach zu erklären. Pesl merkte bei seinen Lektüren durch die Jahrhunderte aber auch, wie Feindbilder sich veränderten: Waren die christlichen Moralvorstellung lange gut für die Trennung zwischen Gut und Böse, gab es auch Zeiten, in denen just der Moralapostel zum Schurken avancierte.
Außerdem reicht das Thema Schurken weit zurück: Den ältesten, den er in die Riege aufnahm, ist Enkidu aus dem 4000 Jahre alten Gilgamesch. Der „jüngste“ Schurke stammt von T.C. Boyle und seinem 2015 erschienenen Buch Hart auf Hart. Die schurkische Sammlung ist eine Wanderung quer durch die Zeiten und durch alle Genres. Immerhin, unter den Erziehungsberechtigten findet sich die Fräuleins Rottenmeier und Knüppelkuh. Wenigstens einer davon könnte man nachsagen, dass sie es vielleicht nicht immer böse gemeint hatte, es aber öfter an Einfühlungsvermögen vermissen ließ. Aber natürlich sind auch jene dabei, die uns auf Anhieb völlig selbstverständlich erscheinen: Vogonen (Despoten), Professor Moriarty und Fantômas (Könige des Verbrechens), Milady de Winter (fatale Frauen) oder Patrick Bateman (Psychopathen).
Jedem Schurken widmet das Buch eine Doppelseite, jeweils illustriert von Kristof Kepler. Samt einem charakteristischen Zitat und einem Steckbrief. Am Ende des Buchs verschafft ein Verzeichnis aller Schurken einen schnellen Überblick. So hat man schnell raus, ob eine bestimmte Figur in die Liste aufgenommen wurde … oder wer dabei ist, an den man gar nicht gedacht hatte.
Ein bedeutender Nachteil des Buchs: Die Doppelseiten, die die Abschnitte voneinander trennen. Diese Doppelseiten sind komplett schwarz mit ein wenig weißer Schrift. Und sie stinken! Ich habe keinen blassen Schimmer, was das für eine Druckfarbe ist, aber das ist wirklich ein Buch zum Lesen, keines zum Schnuppern. Es sei denn, Schurke Nr. 101 wird der Einrichter an der Druckstraße, der die Farbeimer manipuliert hat.
Ein Fall für … die Guten!
Wer hält all die Schurken in Schach? Eine wahre Armada aus Detektiven, Polizisten, Hobbyermittlern und Rechtsmediziniern! Die hat Eric Sandberg zusammen gestellt, ein Literatur-Dozent der City University of Hong Kong. Ihm zur Seite standen mehrere Dutzend Professoren, Dozenten und Lehrbeauftragte aus aller Welt, um die Dokumentationen jeweils fundiert zu erarbeiten.
Mehr als eine Doppelseite pro Figur gibt es hier zwar auch nicht, aber der Charakter des Buchs ist völlig anders. Klassifiziert werden die Ermittler nicht nach Gruppen, Sandberg sortiert einfach nach Namen. Was in diesem Fall ohnehin das Beste ist, denn für jeden Beitrag suchte Sandberg einen Experten, der sich mit der jeweiligen Landesliteratur, der Ermittlerfigur und dem Genre auskennt.
Und wen findet man da? Wunderbar viele! Natürlich Klassiker —Father Brown, Lew Archer, Dr. Gideon Fell, Miss Jane Marple— und natürlich zeitgenössische Figuren, deren Serien noch lange nicht abgeschlossen sind —Jean-Baptiste Adamsberg, Brenner, Detective Benny Griessel oder DI John Rebus.
Aufgemacht ist das Buch so, wie man bereits vermutet, recht theoretisch. Keine Grafiken, dafür eng bedruckte Seiten, größer als A5, mit einer Selected Bibliography pro Autor, langem Fußnotenteil und einem umfassenden Index. Lässt man die akademische Aura außen vor, liefern die Figurenportraits einen guten Abriss über Entstehung, Motive oder herausragende Fälle. Im Fall von Maigret zum Beispiel gehört ein Blick in die zeitgenössische Krimiliteratur dazu, in der Polizisten eine Rarität waren. Die meisten Ermittlerfiguren waren bevorzugt wohlhabende Amateure oder Laienermittler in besonderen Positionen (Journalisten oder Pfarrer). Cordelia Gray wiederum startet 1972 in den Job der Detektivangentur entgegen sämtlicher Konventionen und mischte sich literarisch in Diskussionen um die Frauenrechte Großbritanniens.
Wenn ich so konzentriert wie hier über Inspektor Erlendur Sveinsson und seine Biografie lese, wird klar, warum dieser Mann stets eine trübsinnige Aura hat; „he has never changed and might not even be capable of that“/ er hat sich nie verändert und kann es wahrscheinlich auch nicht. Überblicke dieser Art und solche teils intensiven Auseinandersetzungen mit Figuren gefallen mir. Außerdem punktet Sandberg damit, dass er sich nicht auf europäische und US-amerikanische Figuren beschränkt, auch, wenn diese die Mehrheit stellen. Mit Kogorō Akechi ist unter anderem ein Japaner vertreten, mit Byomkesh Bakshi ein Bengale, mit Héctor Belascoaràn Shayne ein Mexikaner.
If you love crime fiction, you will hate this book
Im Vorwort wird Sandberg ebenso deutlich wie Pesl in seinem: Wie kann man eine Liste mit literarischen Figuren aufstellen, ohne mindestens ebenso wichtige Figuren aus fadenscheinigen Gründen auszulassen? Pesl betont seinen Anspruch auf Subjektivität und seinen Versuch, in Sachen Bekanntheitsgrad, Geschlecht, Weltregionen und Epochen wenigstens halbwegs ausgewogen zu präsentieren. Eine „Schurkenrangliste“ am Ende gibt zumindest die Chance, nicht nur die vorgestellten Schurken zu bewerten, sondern vielleicht eigene Figuren einzuarbeiten.
Sandberg geht wissenschaftlicher an die Problematik heran und diskutiert sogar die These, „literarische Größe“ sei kein fixes Etikett, sondern ein Effekt aus verschiedenen, sich verändernden und untereinander verwobenen Kriterien. Doch er baut darauf, dass gerade deshalb neue Listen von anderen Autoren mit anderen Perspektiven erstellt werden. Und das sei auch gerade gut so. Beide Autoren wissen, dass ihre Listen nur unvollständig sein können und auch, wenn sie keine Fiktion sind, leisten sie dasselbe: Wir spinnen die „Geschichten“ bzw. Listen weiter.
Bibliografische Angaben
Martin Thomas Pesl – Das Buch der Schurken: Die 100 genialsten Bösewichte der Weltliteratur
illustriert von Kristof Kepler
Verlag: btb
ISBN: 978-3-442-71603-6
Erstveröffentlichung: 2018
100 Greatest Literary Detectives – edited by Eric Sandberg
Verlag: Rowman & Littlefield
ISBN: 978-1-4422-7822-6
Erstveröffentlichung: 2018