Bergsteiger-Lesung mit Thomas Glavinic

von Bettina Schnerr
4 Minuten Lesezeit
Wolkenpanorama von der Gefrorenen Wand, Tuxertal. Foto: Bettina Schnerr

Mich beeindrucken Leute, die sich eine Sache zutrauen, die eigentlich größer ist als sie, und von der sie nicht wissen, ob sie dabei nicht ihr Leben lassen werden.

Für die übliche Autorenlesung gibt es wenig Kleidungsvorschriften für die Zuhörer. Bequem oder schick? Sportlich oder elegant? Reine Geschmacksache. Etwas anders fiel dieser Aspekt für eine Lesung von Thomas Glavinic Ende Juli im österreichischen Tuxertal aus: Seine Lesung war geplant auf einer Panoramaterrasse unter freiem Himmel, gelegen auf 3250 Metern Höhe, mit atemberaubender Aussicht, über dem Hintertuxer Gletscher und direkt neben einer Felswand, die den verdienten Namen „Gefrorene Wand“ trägt. Mir blieb also nichts anderes übrig, als am Vortag Pulli, Wanderjacke und Bergstiefel bereit zu legen.

Leider spielte das Wetter nicht ganz mit: Bei nur 2 Grad Celsius am Grat und immer wieder durchziehenden Wolken war die Panoramaterrasse an diesem Tag wenig gastfreundlich, sodass die Lesung vom Veranstalter, dem Tourismusverband Tux, in eine deutlich wärmere Stube des Tuxer Fernerhauses auf 2660 Metern ü.M. verlegt wurde. Doch auch knapp 600 Meter tiefer passte die felsige Alpenkulisse für die rund 25 Teilnehmer gut zum Buch: Der Roman „Das größere Wunder“ spielt zu großen Teilen am Mount Everest, wo sich der Protagonist Jonas auf den geplanten Aufstieg vorbereitet. Während der Akklimatisierung und dem langwierigen Aufstieg hängt er immer wieder Erinnerungen nach und Glavinic entwickelt so die beiden Handlungsstränge des Buches. Der eine, aktuelle, erzählt von Jonas‘ Erlebnissen am Berg, der zweite erzählt in Rückblenden von seiner Kindheit, seinen Freunden und seiner großen Liebe.

Lesung mit Thomas Glavinic im Tuxer Fernerhaus; Foto: Zillertaler Gletscherbahnen

Der Roman startet im Basislager am Everest, das auf etwas 5400 Metern Höhe unterhalb des Khumbu-Eisbruches liegt. Dort setzte Glavinic -natürlich ebenfalls in Bergstiefeln- mit den Szenen bei seiner Lesung an. Die Szenen sind stark geschrieben und lassen bereits die anstrengenden Vorbereitungen zur eigentlichen Besteigung deutlich vor Augen stehen:

„Die zweite Nacht war viel qualvoller. Todmüde und doch weit vom Schlaf entfernt, schüttelte ein Reizhusten seinen Körper, die Kopfschmerzen mahlten, ihm war übel, und ihn suchten Gedanken heim, die er nicht aus seinem Bewusstsein verdrängen konnte. Dabei war es nicht der Charakter der Gedanken, was ihn quälte, sondern schlicht der Dauerzustand des Denkens und Grübelns.“

Auf Kapitel 6, aus dem Glavinic nach eigenen Angaben sonst gerne liest, verzichtete er mit Rücksicht auf das noch bevorstehende Mittagessen. Es gehe darin um einen Zahnarztbesuch, das Zähne ziehen und fehlende Narkose, berichtete er und daher wolle er es sich gerne sparen. Er vertröstete die Zuhörer aber mit der Aussicht darauf, dass der fehlbare Zahnarzt für seine Inkompetenz im Buch noch schwer büßen müsse. Nicht fehlen durften in der Lesung allerdings die Passagen, die das Buch zu einem Liebesroman machen. Jonas erinnert sich an Marie, die er kurz vor einer Sonnenfinsternis kennen und lieben lernt. Eine Sonnenfinsternis wird übrigens auch am Everest eine Rolle spielen und ziert daher großartig, mit einem Bild des Everest kombiniert, das Titelbild des Romans (was in der Hardcover-Ausgabe besonders beeindruckend aussieht).

Zum Schluss der Lesung führte uns Glavninic wieder an den Berg: Jonas‘ Begehung führt auf den Südsattel, wo die Dimensionen des Berges und die physischen und psychischen Strapazen deutlicher werden als je zuvor.

Lesung mit Thomas Glavinic im Tuxer Fernerhaus; Foto: Zillertaler Gletscherbahnen

Ohne Frage und Antwort-Runde ging die Lesung in die Signierstunde über, bei der mir Thomas Glavninic noch die eine oder andere Frage beantwortete, vor allem zu den Szenen am Everest, die intensiv und lebendig geschrieben sind. Glavinic meinte augenzwinkernd, jene Berge mit Seilbahn denen ohne Aufstiegshilfen persönlich vorzuziehen. Mmm, nicht ganz: Den Kilimandscharo hätte er gerne mal in Angriff genommen und ich nehme an, dass man ihm schon mal irgendwo auf einem Wanderweg in den Alpen begegnen könnte. Dennoch: Das Höhenbergsteigen hat es ihm angetan. Dafür interessiert er sich bereits seit Jahren und der fachliche Fundus für die Beschreibung der Details war längst da, als er diesen Roman in Angriff nahm.

Was Glavinic zusätzlich interessiert, ist, was die Menschen charakterisiert, die eine solche Expedition in Angriff nehmen. Dafür steht sicher an erster Stelle sein Jugendfreund Gerfried Göschl, der seit 2012 am Hidden Peak verschollen ist. Göschl versorgte ihn immer wieder mit Erzählungen darüber, wie es im ewigen Eis aussieht und was dort in den Seilschaften vorgeht. Als Gesprächspartner, so berichtete Glavninic, fand er unter anderem auch Robert Schauer, wie er selbst ein Grazer. Schauer hatte 1978 in einer von Wolfgang Nairz geleiteten Expedition als 24-Jähriger und erster Österreicher den Everest bestiegen. Schauer war Mitglied derselben Expedition, in der mit Reinhold Messner und Peter Habeler erstmals die Besteigung ohne Sauerstoffmaske gelungen war. Mit dem Expeditionsmitglied Haberer schließt sich ein bisschen der Kreis zum Lesungsort, denn Habeler ist aus Mayrhofen im Zillertal, von wo aus das schmale und lange Tuxertal losgeht.

Thomas Glavinic betonte auf der Lesung, dass „Das größere Wunder“ ein Liebesroman sei (was er auch in Interviews immer sagte). Was mich aber bei der Lesung und der späteren Durchsicht des Romans immer wieder gepackt hat, waren die Szenen am Berg (weswegen das Schreiben des Beitrags auch unheimlich lange gedauert hat, weil ich mich immer wieder festgelesen habe). Kein Wunder eigentlich: Ein ganz großes Lob zum Buch soll nämlich von den Bergsteigern gekommen sein, die am Everest waren, wie mir berichtet wurde. Diese bestätigten, dass Glavinic mit seinen Passagen die Empfindungen, Ängste, Strapazen und Abläufe am Berg der Berge ausgezeichnet beschrieben habe.

Thomas Glavinic - Das größere WunderDas Buch

Jonas ist Tourist in einer Todeszone, er nimmt an einer Expedition zum Gipfel des Mount Everest teil. Während des qualvollen Aufstiegs hängt er seinen Erinnerungen nach. An seine wilde Kindheit, an das grausame Schicksal seines Bruders Mike, an seine endlosen Reisen nach Havanna, Tokio, Jerusalem und Oslo. Und schließlich an die magische Begegnung mit Marie, seiner großen Liebe, die sein ganzes Leben verändert.

Thomas Glavinics Roman ist eine Expedition ins Ungewisse — ein unvergleichliches Buch, packend und verstörend zugleich, von einer leidenschaftlichen Energie und enormen Suggestivkraft. Und ein Buch der Liebe.

Bekanntermaßen bin ich nicht der Typ für Liebesromane, wohl aber jemand, der sich von starken Geschichten vom Bergsteigen packen lässt. „Das größere Wunder“ liegt somit bereits auf meinem Lesestapel.

Verlag: Hanser
ISBN: 978-3446243323

Pfiat eich und bis zum negschta Mal

Bettina wandert; Foto: privat

Thomas Glavinic zog es nach der Lesung noch hinauf auf 3250 Meter in die Gletscherhöhle; ich selber war in der Spannagelhöhle knapp unterhalb des Tuxer Fernerhauses und habe die mit über 10 km Länge größte Höhle der Zentralalpen besucht (und die höchstgelegene Schauhöhle Europas).

Auch, wenn gerade keine Lesung ist, kann man im Tuxertal noch eine Menge anderer grandioser Ziele besuchen und erwandern. Es lohnt sich!


Lesungsfotos: Zillertaler Gletscherbahnen
Bergfotos: Bettina Schnerr
Eingangszitat: aus einem SRF-Interview mit Thomas Glavninic

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