Von der Freundin wegen Langweiligkeit verlassen und ums Geld betrogen. Beruflich außer Werbesprüchen für Müsli kaum etwas vorzuweisen. Vom Chef fristlos gekündigt, nachdem die Müslikunden die Agentur gewechselt haben und seine DIenste nicht weiter benötigt werden. Für den Werbetexter sieht die Lage mau aus und er hat keine Ahnung, wie es weitergehen soll.
Die Nachbarn erweisen sich in dieser Situation als Glücksfall. Er umschifft seine Arbeitslosigkeit mit dem Image eines sozialen und couragierten Abgangs aus einer fragwürdigen Firma. Damit landet er unwissentlich einen Volltreffer. Denn die Nachbarn vermitteln ihn daraufhin als Autoren an einen äußerst wohlhabenden Mäzen. Für ihn soll er Schicksale zu einer Buchserie verschriftlichen, um Aufmerksamkeit für die Opfer von Verfolgung, Hunger- und Naturkatastrophen und anderen humanitären Debakeln zu schaffen.
Mit seiner Erfahrung erkennt er schnell das Problem der Aufgabenstellung: Seinem faktenreichen Material fehlt es an Emotion. Daraus ließe sich nur ein Flyer wie jeder andere produzieren. Wie gut, dass er bereits erfolgreiche Gehversuche mit ChatGPT gemacht hat. Kurzerhand entwickelt er für seinen Auftraggeber die „wahre Geschichte“ einer jungen Afghanin, die auf dem Buchmarkt sensationell gut aufgenommen wird.
Wer ist der Kopf in der Kreation?
Mit den Tücken des Schreibens und der Täuschung hat es Charles Lewinsky schon in „Rauch und Schall“ aufgenommen. Statt sich unter Kollegen auszuhelfen, setzt er dieses Mal auf den Austausch mit einer KI. Lewinsky hat sich dafür aus zwei Perspektiven an die Arbeit gemacht: Als Autor schreibt er den Part über den gewieften Werbetexter; die Romanfragmente seines Werbetexters lässt er von ChatGPT und Neuroflash erledigen. Abgesetzt durch Normal- und Kursivdruck lassen sich Mensch und KI auseinanderhalten.
Die fragmentierten Teile und ChatGPT-generierte Listen im Aufbau mochte ich bis zum Schluss nicht sonderlich. Aber dafür die Ideen hinter dem Roman umso mehr.
Ganz offensichtlich stellt sich die Frage nach der KI. Wie viel davon vertragen wir in Literatur und Alltag? Bleibt der Autor der kreative Kopf hinter einem Roman, solange er wesentliche Elemente wie Plot und Figuren definieren kann? Und weil die KI nach seinen Anweisungen schreiben muss? Wollen wir überhaupt solche Romane lesen?
Lewinsky spielt mit den „Prompts“ und zeigt, was bei Versuchen mit unterschiedlichen Anweisungen an die KI herauskommt. Sein Werbefachmann holt sich hier Tipps, wie er sich aus unangenehmen Situationen herauswinden kann. Ebenso Ideen für diverse Ausreden, die er durch sein anfängliches Flunkern inzwischen öfter benötigt.
Selbstverständlich kennt ChatGPT auch die Grundlagen für eine Hauptfigur aus Aufghanistan. Zwar ist ein Faktencheck nötig. Doch es zeigt sich, dass bestehende Geschichten von Frauen und ihren Schicksalen gute Grundlagen für einen neuen Roman hergeben.
Was macht eine Story aus?
Die andere Frage, die hoffentlich nicht untergeht: Was macht überhaupt eine gute Geschichte aus? Der Mäzen schwört auf die Wahrheit. Der Werbetexter aber weiß genau, dass er aus dem Bericht über verschmutzte Brunnen oder überschwemmte Häuser keinen Roman machen kann, mit dem er Leser:innen erreicht. Ein Roman ist immer Fiktion, und doch oft so angelegt, dass er so passiert sein könnte. Erfahren wir als Lesende mehr über eine Person und ihr Leben, erscheint uns oft selbst eine fiktive tendenziell näher als eine echte, die über ein paar Zeilen in einem Prospekt nicht hinauskommt. Über traurigen Romanseiten sind mit Sicherheit weitaus mehr Tränen vergossen worden als über dem jüngsten Zeitungsartikel zu Erntearbeiterinnen in Spanien, Familien auf Kiribati oder Billigstarbeit für Kleidung, was allesamt wirklich zum Heulen ist.
Gleichwohl sind ausführliche Ausschmückungen in realen Fällen nicht akzeptabel. Insofern ist es durchaus berechtigt, zu überlegen, wie sich Missstände so erzählen lassen, dass die Botschaft tatsächlich Menschen zum Handeln bewegt. Und das, ohne die Wahrheit zu unterwandern, ohne die Akzeptanz zu strapazieren. Aber so, dass wir schneller begreifen, was vor sich geht. Letztlich geht es ja nicht immer um „ferne“ Ereignisse.
Bei Charles Lewinsky muss der Werbetexter schlussendlich nur ein Problem lösen, nämlich eine einzige Mitwisserin. Hier zeigt sich, wie der Stellenwert von KI-generierter Literatur aussieht: Besser, niemand weiß es. Und der Werbetexter lernt freilich dazu, ganz wie seine KI namens „KIrsten“. Beim nächsten Mal wird es einfach keine Mitwisserin geben. Kirsten wird die eine oder andere passende Strategie schon einfallen.
Bibliografische Angaben
ISBN: 978-3-257-07306-5
Verlag: Diogenes
Veröffentlichung: 2024
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