Kein anderes Bild könnte besser zu diesem Roman passen als jenes, das der Verlag für das Cover ausgewählt hat. Sein Ursprung ist „Goethe in der römischen Campagna“, gemalt von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, hier verwendet in einer modernen Bearbeitung von Andy Warhol. Das Original hängt im Frankfurter Städel Museum. Dort notiert man darüber: „Kein anderes Porträt hat unser Bild von Goethe so stark geprägt wie dieses.“ Der Dichterfürst als Dichterikone, von einem guten Freund und Verehrer gemalt und dennoch, irgendetwas ist nicht in Ordnung damit: „Es sieht aus, als hätte Goethe zwei linke Füße“, schreibt das Museum weiter.
War Tischbein ein so miserabler Maler, dass er rechts und links nicht unterscheiden konnte? Die Frage führt zu einer Lösung, die überraschend viel mit Lewinskys „Rauch und Schall“ zu tun hat.
Goethe kehrt in diesem Roman von einer seiner inspirierenden Auslandsreisen nach Weimar zurück. Doch kurz darauf erhält er den Auftrag, für den Geburtstag der Herzogin eine kleine Aufführung zu kreieren und er muss feststellen, dass die Reise ihren Zweck dieses Mal nicht erfüllt hat. Dem Dichterfürst will tagelang kein vernünftiger Reim einfallen. Kurz: Er hat eine handfeste Schreibblockade.
Hilfe kommt aus der eigenen Familie. Sein Schwager Christian August Vulpius ist nicht nur Bibliotheksregistrator mit Goethe selbst als Vorgesetztem. Er arbeitet auch als Lohnschreiber, der von Goethe gefürchtete und ungeliebte „Trivialliteratur“ verfasst — zum Geld verdienen auch noch! Doch just er verfügt über ausreichend Ideen und vor allem die nötige Diskretion, um den großen Dichter beim Herzog nicht in Ungnade fallen zu lassen.
Was uns wieder zurück zu Tischbein führt und Goethes linken Füßen. Der Herzog hatte seinerzeit gewiss kein Näschen dafür, dass die bestellten Verse möglicherweise nicht ganz dasselbe künstlerische Niveau hatten wie sonst. Goethe seinerseits fiel nicht auf, dass er dem Herzog auch nichts anderes war als ein Lohnschreiber. Und den Zeitgenossen Tischbeins wiederum fielen die linken Füße nicht auf. Kein Wunder, war das Bild von Tischbein doch nie vollendet worden. Unter den „Leerstellen“ auch der rechte Fuß unterhalb des Knies.
Wie beim großen Dichterfürsten, der sich mit einem „Ghostwriter“ behalf, gehört auch die finale Version des Ölbilds in die Bilanz einen ganz anderen Malers. Hüben wie drüben war eine zweite Hand im Spiel. Nur weiß man im Fall des Gemäldes nicht, wer das Motiv in der Campagna vollendet hat. Die Expertinnen und Experten des Städel aber sind sich sicher: Ein unvollendeter Goethe hätte sich nicht verkaufen lassen und so hat ein unbegabterer Maler als Tischbein sich an die letzten Pinselstriche gewagt. Mangels einem Goethe, der Tischbein noch Modell gesessen hatte, kopierte der Unbekannte ihrer Theorie zufolge mehr oder weniger den Fuß, der schon da war.
Charles Lewinsky und dem Diogenes Verlag ist ein herrliches Spiel mit Kopien, Kopisten und Auftragsarbeiten gelungen. Lewinsky mit Absicht, dem Verlag wahrscheinlich durch Zufall. Das schmälert jedoch keinesfalls das Vergnügen, sich auf die Spur der Parallelen zu setzen. Wie zum Beispiel auch der, dass nicht nur der Maler Tischbein, sondern auch der Vielschreiber Vulpius jeweils nur durch je ein einziges Werk berühmt geblieben sind. Es gibt – mit Augenzwinkern selbstverständlich – eine durchaus plausible Erklärung dafür.
Linktipp: Charles Lewinsky – Sind Sie das?
Bibliografische Daten
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-257-07259-4
Erstveröffentlichung: 2023
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Titelbild: Städel Museum, Frankfurt am Main
Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Goethe in der römischen Campagna, 1787
