Rund 19.000 Einwohner hat Olten an der Aare, darunter möglicherweise überdurchschnittlich viele SchriftstellerInnen. Alex Capus muss es wissen, denn er wohnt hier, und zählt auf:
„Peter Bichsel und Franz Hohler sind hier aufgewachsen, ebenso Ulrich Knellwolf und Rolf Lappert. Gerhard Meier hat hier seine Stadtspaziergänge unternommen, Otto F. Walter hat Olten in seinen Romanen vielfach portraitiert. Und Pedro Lenz und ich selber leben ebenfalls sehr gerne hier. … Friedrich Glauser wäre beinahe hier ansässig geworden.“
Alex Capus in: Wachtmeister Studer an der Rosengassse
Ein paar Namen sind ihm sicher durch die Lappen gegangen, damit der Text nicht noch länger wird und ehemalige und aktive Verlage unterschlägt er auch. Die literarische Produktion aber ist unbestritten so hoch und vielfältig, dass die Stadt mit Hilfe ihrer prominenten Einwohner im Jahr 2016 das Projekt LiteraTour aufbaute.
Eine Stadt voller blauer Stelen
Die Stadt legte bis heute sechs Audiotouren durch die Stadt, jede einem anderen Autor oder Thema gewidmet. Natürlich liest auch jeder seinen eigenen Text vor. Ein Tourenplan listet auf, wie die Routen verlaufen und wo die Hörstationen ungefähr liegen. Jede ist mit einer schmalen blauen Stele gekennzeichnet. Alles, was man nun noch braucht, ist ein Smartphone oder Tablet mit QR-Code-Scanner: Scannen, die Datei über den Link öffnen und zuhören.
Viel länger als etwa 4 Minuten ist keiner der Texte, dafür haben sie entweder mit dem Autor selbst, dem Ort der Stele oder Olten zu tun. Franz Hohler erzählt von seiner Zeit als Messdiener. Pedro Lenz guckt vom Restaurant Flügelrad aus auf die Bahngleise und macht sich Gedanken über die Lokführer. Alex Capus gibt eine Anekdote vom Zirkus Knie zum Besten und darüber, was der Zirkus mit einem Prosecco-Glas zu tun hat. Sehr lässig, wie Geschichte und Alltag zu kleinen literarischen Häppchen werden.
Luege, lose, laufe …
Mit diesem Spruch werden in der Schweiz kleine Kinder im Straßenverkehr erzogen; so geht man korrekt über die Straße. Ein bisschen gilt das auch für die LiteraTour: Lose und laufe ist klar, oder? Zuhören und Laufen. Sonst wäre es ja keine Audiotour. Aber eben auch luege. Ein bisschen aufmerksam muss man nämlich sein, denn die blauen Stelen sind schmal.
Station 3 bei Alex Capus habe ich komplett verpasst. Dreimal dran vorbei gelaufen und trotzdem nichts gesehen. Dabei stand ich direkt vor der legendären Bar Galicia und dass ausgerechnet da kein Capus-Text existiert, konnte ich mir nicht vorstellen. Dafür hatte ich einen netten Schwatz mit einem, der jeden Abend selbst im Galicia arbeitet und auf vier Uhr vertröstete, da mache die Bar dann ja auf. Vielleicht liegt die Stele zum Polieren tatsächlich beim Tresen. Nachgeschaut habe ich, zugegeben, allerdings nicht.
Den vorgesehenen Text ließ ich ausfallen, dafür entschädigte ich mich mit Texten, die einfach auf der Route lagen. Automatisch mache ich mir Gedanken, warum die Oltner so viel Literatur hervorbringen. Capus vermutet, die Oltner Stadtverwaltung präpariere womöglich das Trinkwasser. Dazu habe ich allerdings eine eigene Theorie entwickelt und das hat indirekt der Wildsau zu tun. Neben dieser Skulptur an der Aare sendet die LiteraTour unter anderem einen Text über das Wetter.
„Das Epizentrum aller Trübnis“
In Olten gibt es sehr viel Nebel. Von November bis Februar liegt er oft dicht wie Watte über der Aare und in den Gassen der Altstadt … So dicht, dass die Menschen die Hand nicht vor den Augen sehen und sogar die Tauben zu Fuß nach Hause gehen. Wochenlang wird es nie richtig Tag …
Alex Capus in: Der liebe Nebel
Wenn Olten weltweit für eine derart dicke Suppe bekannt ist, muss sich der Oltner etwas einfallen lassen, um nicht deprimiert in den März zu gehen. Ich vermute, er hockt den unerträglichen Herbst und Winter über mit dem Stift in der Stube. Sollte die Trinkwasseraufbereitung wirklich einen Beitrag leisten, ohne Nebel wäre der Effekt doch wohl mickrig zu nennen. Darauf hätte Capus auch selber kommen können …
So, nun aber noch ein paar Fakten: Die Touren von Franz Hohler, Alex Capus und Pedro Lenz haben jeweils acht Stationen (Entwarnung: für Auswärtige gibt’s die Mundart-Texte von Lenz parallel auch in Hochdeutsch, ganz so wie Di schöni Fanny). Die Tour LiteraThek umfasst derzeit 18 Stationen von 15 AutorInnen und zudem ist eine Familientour dabei, die mit Kinderliedern und Rätseln gestaltet ist.
Abstecher zu den Cornichons
Apropos Rätsel: Am Klosterplatz steht eine umgebaute Telefonzelle, die Rätselbox. Mit ihrem literanatürlich blauen Design nicht zu übersehen. Mit Buchstabensalat dekoriert und auf der Rückseite mit allen Signaturen der beteiligten SchriftstellerInnen versehen. Drinnen findet man neben ein paar Flyern eine Rätselkiste, damit auch die Großen was zum Raten haben. Auf Knopfdruck spuckt das Gerät eine Art Kassenbon mit Frage aus und hat man alles richtig, darf man sich im Tourismusbüro eine kleine Belohnung abholen.
Am Klosterplatz beginnt übrigens auch der Quai Cornichon, der Walk of Fame für alle Preisträger des Schweizer Kabarett-Preises Cornichon. Den Preis gibt es seit 1988, aber es dauerte — möglicherweise wegen des dicken Nebels — bis 2017, bis die Idee zu dieser Portraitserie final realisiert wurde.
Kurz nach dem Quai Cornichon war meine LiteraTour mit Alex Capus schon zu Ende, gleich neben dem Tourismusbüro und praktisch schon fast am Bahnhof. Die Überquerung der Bahnhofbrücke zeigt, dass die letzte Episode über Eiger, Mönch und Jungfrau wunderbar zur LiteraTour passt — Capus erzählt so schön von William Matheson und seinem Gipfelerlebnis. Die Episode ist aber auch sehr wetterabhängig. Dass man die imposante Silhouette der drei Gipfel tatsächlich von hier aus sehen kann, ist mit den Worten des Autors „eine touristisch bisher kaum genutzte Tatsache“. Das hat Gründe, fürchte ich. Nebel ist nur einer davon.
Fotos: Bettina Schnerr