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Harriet Cummings – Eine von uns

Harriet Cummings – Eine von uns

Die Chiltern Hills in England sind wohl genau das, was man idyllisch nennt. Kleine Dörfer, teils so abgeschieden, dass sich dort Fuchs und Hase Gute Nacht sagen. In einem davon lebt Deloris, recht frisch verheiratet mit Harvey, der hier groß wurde. Die Londonerin versucht immer noch, sich mit den Gepflogenheiten anzufreunden. Dazu gehört zum Beispiel eine bessere Beziehung zu den Nachbarn, wie der etwa gleichaltrigen Anna. Anna lebt seit dem Tod ihrer Mutter alleine; der Vater verließ das Dorf schon vor Jahren.

Seltsame Details irritieren die Gemeinschaft: Immer mehr Einwohner haben das Gefühl, dass jemand bei ihnen im Haus war. Man nennt den Eindringling den „Fox“ und vermutet ihn an jeder Ecke, hinter jeder Tür. Es riecht nach Erde in den Zimmern, Stapel sind anders sortiert, Zweitschlüssel fehlen. Eines Tages verschwindet Anna von der Bildfläche. Die ohnehin nervösen Leute bekommen es nun richtig mit der Angst zu tun. Die einen organisieren sich zu Patrouillen, andere überwachen ihre Familienmitglieder.

Mehr Grüppchen, mehr Fronten

Es ist gar nicht anders zu erwarten: Das Misstrauen der Leute untereinander wächst. Mit jenen, die man vorher schon mochte oder achtete, hält man zusammen. Gegen jene, die man nicht so sehr mochte, macht man nun umso mehr Front. Aus so einem geradezu idiotisch-kindischem Verhalten heraus eskaliert sogar ein Versuch, Hilfe zu leisten, weil „Hilfe leisten“ nicht in das Außenseiter-Konzept passt, das die Dorfbewohner über den einen oder anderen gestülpt haben.

Wir sind alle Opfer unserer Vorurteile. Jeder von uns hat seine persönliche Sicht auf die Welt. Nur uns selbst kennen wir wirklich, und auch da gibt’s oft Überraschungen.

Cummings erinnert mich mit dieser Geschichte hin und wieder an Yael Inokais Mahlstrom. Beide Bücher haben einen ganz unterschiedlichen Charakter. Doch die klaustrophobische Enge des Dorfes, die Engstirnigkeit Einzelner, die in so einem Umfeld besonders wirksam ist, das Außenseiter-Einheimischer-Getue, das überdeutliche Anpassen, bloß nicht auffallen, um jeden Preis den friedlichen Anstrich erhalten … das finde ich präzise und beängstigend gut in beiden Titeln. Da leben Leute jahrelang nebeneinander her, tun wahnsinnig eng, betüddeln und überwachen sich und trotzdem kriegt angeblich keiner über die Jahre mit, was hinter den Kulissen passiert.

Deloris‘ Emanzipation

Deloris, die uns durch die Geschichte führt, gehört zu jenen, die wenig Angst zeigen. Sie hält die Augen offen und hat zudem immer noch den Blick der Auswärtigen auf das Geschehen. Obwohl sie, zumindest oberflächlich, durch ihre Heirat mit Harvey schon „dazugehört“: Seine Familie ist Arbeitgeber, angesehen, wohlhabend und alteingesessen. Aber das Idyll nervt die gebürtige Londonerin und es unterfordert sie.

Harvey ist der Goldjunge seiner Eltern, gnadenlos verwöhnt. Er hat nie für irgendetwas kämpfen müssen, alles fiel ihm in den Schoß. Den Anspruch gibt er an Deloris natürlich weiter: Sie hat nun dafür zu sorgen, dass es ihm an nichts fehlt und dass sie brav an seiner Reputation mitarbeitet. Ausbrüche aus dem vorgesehenen System versuchen sowohl Harvey als auch die Schwiegermutter bereits im Keim zu ersticken. Doch die zunächst etwas naive Frau reift während der Zeit mit dem Fox und stellt sich immer mehr gegen die Erwartungshaltung ihres Mannes. Sie lernt, dass sie mit ihrer Heirat nicht einfach die Erfüllungsgehilfin anderer Leute Träume werden will.

In dieser Hinsicht ist der Roman denn auch um einen Aspekt weiter gefasst als Mahlstrom. Was bei Eine von uns zunächst wie ein Krimi klingt, ist ein präziser Blick auf die Gesellschaft, ihre Bequemlichkeit und Selbstwahrnehmung. Wie in Malstrom braucht diese Gesellschaft leider hin und wieder einen Knall, um sich zu besinnen. Diese liefern in beiden Büchern übrigens jedes Mal junge Frauen.

Bibliografische Angaben

Verlag: Deuticke
ISBN: 978-3-552-06335-8
Originaltitel: We all begin as Strangers
Erstveröffentlichung: 2017
Deutsche Erstveröffentlichung: 2017
Übersetzung: Walter Goidinger

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