Der Schriftsteller M., inzwischen betagt und als Autor auf dem absteigenden Ast, wird an seinen größten Bucherfolg „Abrechnung“ erinnert, als er anonyme Briefe erhält. Der Briefeschreiber möchte M. neue Informationen zu diesem Buch zuspielen, das als einziges Werk M.s auf wahren Begebenheiten beruht. Der Bestseller griff das spurlose Verschwinden eines jungen Lehrers auf, das seinerzeit für viel Aufregung in den Niederlanden gesorgt hatte. Der Lehrer war zuletzt gesehen worden, als er in einem tief verschneiten Dorf bei zwei Schülern zu Besuch gewesen war. Das Pikante an der Sache: Die Schülerin war bis kurz zuvor noch seine Geliebte gewesen, der Schüler war ihr neuer Freund. Von einer Suche nach Hilfe für das nicht mehr anspringende Auto des Lehrers kehrte der Schüler jedoch alleine zurück.
Man erfährt schnell, dass der geheimnisvolle Briefeschreiber jener Schüler von damals ist, der ohne Lehrer zurückkehrte. Er ist zufällig Nachbar von M. geworden und nimmt Kontakt zu ihm auf. M. selbst ist mit einer deutlich jüngeren Frau verheiratet, die einst als Schülerin zu ihm gekommen war, um Fragen zu seinem Werk zu stellen. Um all das unter einen Hut zu bringen, mischt Koch mehrere Erzählebenen. Die eines Briefeschreibers, die der Schüler und der Clique von damals, die des Nachbarn (der auch ohne Briefe zu Wort kommt), die des Autoren, die der Autorenehefrau. Das ist verwirrend, aber verkraftbar.
„Weil man vom Roman eine Art Ordnung erwartet, eine kompaktere, übersichtliche Wirklichkeit. Die Realität schert sich nicht um Kompaktheit. Schriftsteller aber müssen drastisch vereinfachen.“
Parallel dazu entwickelt sich eine Idee davon, wie M. an ein Werk herangeht. Er erläutert ausführlich, wie er „Abrechnung“ bei seiner Entstehung konzipiert hat, wie er Figuren aus dem Roman geschnitten hat, ihnen aus Gründen der Dramaturgie Platz eingeräumt hat oder nicht. Koch macht mit seinen verschiedenen Ebenen genau das Gegenteil von der Arbeitsweise, die M. so energisch verteidigt und spielt die Gestaltungstheorien gegeneinander aus. Das wirkt durchaus, ist in der Länge des Romans aber langatmig.
Viel Platz nehmen die Animositäten im Literaturbetrieb ein, die offenbar so arg sind, dass M.s Ehefrau sich mittlerweise das Eine oder Andere einfallen lässt, um nicht zu Preisverleihungen und Ähnlichem antreten zu müssen. Viel Platz bekommen die Cliquengeschichten von damals und die Geschichte, wer sich in wen verliebt hatte. Am Ende ist der Roman ein Spiel mit erzählerischen Möglichkeiten, eine Balance zwischen imaginären Perspektiven und Wirklichkeit – ein so packendes Buch wie Angerichtet ist dieser Roman allerdings bei Weitem nicht. Er ist raffiniert gestrickt, verliert aber irgendwo mittendrin die Puste.

Wer bis zum Ende durchhält, erfährt überraschende Details, die M. durch seine Recherchen als Ausgangslage für „Abrechnung“ benutzt und gekannt hatte. Das ist „echt Koch“, reißt das sonst eher langweilige Buch aber nicht raus. Die Häme über den Literaturbetrieb verleiht dem Buch auch wenig Farbe. All die Zutaten sind final ein bisschen zu viel des Guten. Die kompaktere Ordnung von M. wäre vielleicht nicht schlecht gewesen.
Bibliografische Angaben
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN: 978-3-46204-738-7
Originaltitel: Geachte Heer M.
Erstveröffentlichung: 2014
Deutsche Erstveröffentlichung: 2015
Übersetzung: Christiane Kuby, Herbert Post
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