Die Mittelschülerin Himari findet ihren Umzug nach Sapporo knapp nach Schuljahresbeginn eher fragwürdig. Sie fürchtet Mobbing und Einsamkeit in einer Klasse, in der die wesentlichen Freundschaften längst geschlossen wurden. Auf dem Schulweg ermuntert eine ältere Nachbarin Himari dazu, die Ankunft in Sapporo mit Zuversicht und einem Lächeln zu versuchen. Der Einstieg gelingt mit Frau Sugiuras Tipp. Doch als sie die Nachbarin dankbar erneut aufsuchen will, findet Himari anstelle des Hauses nur noch einen Parkplatz vor. Sugiura ist wie vom Erdboden verschluckt und den Parkplatz gibt angeblich bereits seit Jahren.
Durch eine Bemerkung von Sugiura sucht Himari das Café ‚Tacet Yuguredo‘ in der Nähe eines Parks. Gibt es das Café oder ist auch dieser Ort nur eine Phantasie aus einer seltsamen Begegnung?
Zeitreise mit Kaffeeduft
Doch das ‚Tacet‘ gibt es wirklich, betrieben von Frau Hayari und Herrn Higure. Wie sich herausstellt, ist Sugiura hier wohlbekannt und gleich bei ihrem ersten Besuch begreift Himari, dass die beiden Barista eine ungewöhnliche Fähigkeit haben: Während der Zeit, die die Zubereitung eines Kaffees braucht, können sie Menschen als „Zeitwächter“ in die Vergangenheit zurückbegleiten. In genau 4 Minuten und 33 Sekunden können bestimmte Momente nochmals erlebt und verändert werden.
Die Schülerin ist selbst mit dabei, als ein Witwer seiner verstorbenen Frau nochmals einen Wunsch erfüllen will. Oder als eine Mutter nach der Scheidung die Trennung von ihrer Tochter nicht verkraften kann. Himari begreift, dass sie ebenfalls die Fähigkeit hat, auf Zeitreise zu gehen. Und auch sie hat einen Moment in der Vergangenheit, den sie gerne rückgängig machen würde: Den Unfall, der ihre Pianistinnenkarriere zerstört hat. Als Musik-Wunderkind wurde sie auf ein englisches Internat geschickt. Doch sie musste zurückkehren, nachdem sie ihre Finger nicht mehr richtig bewegen kann. Sehr zum Missfallen ihrer Mutter, die den Traum einer Starkünstlerin als Tochter nicht aufgeben will.
Ein stimmiger Jugendroman
„Das kleine Café der zweiten Chancen“ ist wohl das Jugendbuch unter den Romanen mit Zeitreisen oder Vergangenheitsbewältigung über Essen und Kaffee. Den Eindruck vermittelt weniger das stereotype und sterbenslangweilige Cover (ein klarer Fall für die Liste roter Sonnen) der deutschen Ausgabe als vielmehr das japanische Original. Die junge Himari steht nach ihrem Unfall und dem Umzug in eine neue Stadt an einem Scheideweg. Zwei Bedingungen, unter denen sie sich neu zurechtfinden muss.
Vieles in Shiori Otas Roman passt sich der Wohlfühlatmospähre an, die solchen Romanen eigen ist. Und doch löst sich nicht alles in Wohlgefallen auf. Die beiden Barista zeigen Himari, dass jede Zeitreise an Bedingungen geknüpft ist. Wer die Zukunft ändert, löst neue Konsequenzen aus. Eine kleine Geste, um das Gewissen zu beruhigen, mag harmlos ausfallen. Doch gewisse Änderungen können für den Zeitreisenden selbst oder andere Folgen haben, die vielleicht schlimmer ausfallen als gewollt. Zeitwächter erinnern sich bisweilen an eine Zukunft, die durch Anpassungen während der vier Minuten und 33 Sekunden gar nicht mehr existiert.
Himari hat also ein gewisses Lernpensum vor sich, wenn sie sich um Zeitreisen kümmern möchte. Die außergewöhnliche Fähigkeit ist mit Reife, Menschenkenntnis und viel Verantwortung verbunden. Ein Coming-of-age-Roman, der meines Erachtens gut in die japanische Kultur passt.
„Jeder hat in seinem Leben einen Moment, den er unbedingt noch einmal erleben möchte“, sagte sie leise, nachdem sie das Uhrglas wieder geschlossen hatte.
Jeder hat solche Momente. Gleichzeitig besteht ein großer Teil des Selbstverständnisses darin, sich mit Umständen so gut wie möglich zu arrangieren. Der passende Ausruf: 仕様がない, shouganai, wenn sich Dinge nicht ändern lassen oder nicht zur Zufriedenheit ausgehen. Ein Happy-end fällt nicht unbedingt im Hollywood-Stil aus. Oft hängt es mit der Fähigkeit zusammen, Grenzen zu erkennen und sich in ihrem Rahmen bewegen zu können. Welchen Weg Himari gehen wird, könnte also durchaus eine interessante Geschichte werden – einen zweiten Band gibt es in Japan bereits.
Bibliografische Angaben
Verlag: Droemer
ISBN: 978-3-426-56168-3 (Ebook)
Originaltitel: Majo no iru kafeten to 4 pun 33 byo no timetravel / 魔女のいる珈琲店と4分33秒のタイムトラベル
Erstveröffentlichung: 2023
Deutsche Erstveröffentlichung: 2024
Übersetzung: Anemone Bauer
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