Suzumi Suzuki erzählt in „Die Gabe“ von einer jungen Frau, die als Hostess im Tokyoter Rotlichtviertel arbeitet. Für wenige Tage wird die schwer kranke Mutter zu ihr ziehen – nur kurz, bevor die Krankheit sie ins Spital zwingt. Die Mutter wolle ein letztes Gedicht im privaten Umfeld schreiben, was ihr im Spital nicht möglich sei. Die Tochter erfüllt den Wunsch, obgleich er ihr unangenehm ist. Denn die beiden hatten zeitlebens kein wirklich gutes Verhältnis zueinander.
In Rückblicken erzählt „Die Gabe“ in kleinen Szenen von einer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung, während die Tochter neben der bei ihr hausenden Mutter mit dem Verlust zweiter Freundinnen hadert. Die eine ist mit einem Geliebten durchgebrannt und lässt ihre kleine Familie zurück, die andere hat Selbstmord begangen.
Der Roman ist dünn, arbeitet skizzenhaft und steckt doch voller Tragik. Diese beginnt mit der Mutter, die als Künstlerin talentiert und als Frau atemberaubend schön ist. Als Künstlerin kann sie aber nicht reüssieren, weil ihre Schönheit den Auftritt dominiert, und als sie schwanger wird, zieht sich der Liebhaber schnell wieder zu seiner Ehefrau zurück. Als Ehefrau versteht sie sich die Sängerin und Lyrikerin aber auch nicht und weist ein Leben lang einen anderen Mann zurück, der sich ernsthaft um sie bemüht.
Das Tattoo als Schutzpanzer
Die Tochter trägt seit Jahren Narben von Brandverletzungen mit sich herum. Brandverletzungen, die die Mutter mit Absicht verursacht hatte. Inzwischen versteckt unter aufwändigen Tattoos, die sie während der Arbeit aber nicht zeigen darf. Im Nachtleben zählt nur das perfekte Aussehen einer Frau – nur danach bemisst sich ihr Wert. Hat die Mutter die Tochter verbrannt, in der Hoffnung, ihr eine Laufbahn wie die eigene zu ersparen? Oder war es ein Ausdruck völliger Überforderung?

Verwundern würde beides nicht. „Die Gabe“ schwimmt in Einsamkeit — wie so oft, wenn Protagonistinnen keinen Namen haben und als Stellvertreterinnen für so viele andere Frauen mit vergleichbaren Schicksalen stehen und wo man als Gesellschaft auch gar nicht so genau hinschauen möchte. Auch Überforderung, die die erzwungene Nähe durch den Zuzug der Mutter nicht zu lösen vermag — oder wie beim Beispiel der Freundin, deren andauernden Hilferufe nicht verstanden werden. Falls die Tochter sich späte Antworten auf all ihre offenen Fragen erhofft, wird sie enttäuscht. So, wie Suzuki schreibt, bezweifle ich aber auch, dass Antworten der Tochter geholfen hätten. Leicht macht es Suzuki auch den Leserinnen und Lesern nicht. Vieles bleibt nur in Andeutungen bestehen, sodass am Ende einiges offen bleibt und zur Erforschung einlädt.
Die Gabe als Fluch
Ein Fazit aber lese ich sehr klar aus dem Roman heraus: Weibliche Schönheit als Gabe und weibliches Kunstverständnis als Begabung zeichnet Suzuki als Geschenke, die in der Gesellschaft missverstanden und missbraucht werden.
>> Das Buch war für den Akutagawa-Preis nominiert.
Bibliografische Angaben
Verlag: S. Fischer
ISBN: 978-3-10-397547-5
Originaltitel: ギフテッド (gifteddo)
Erstveröffentlichung: 2022
Deutsche Erstausgabe: 2024
Übersetzung: Katja Busson
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