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Tilman Spreckelsen – Der Maigret-Marathon

Tilman Spreckelsen – Der Maigret-Marathon

Tilman Spreckelsen - Der Maigret-Marathon

»Manche kommen und fragen mich: Was soll ich denn von Simenon lesen? – Ich antworte: alles«, so André Gide. Tilman Spreckelsen hat den Ratschlag beherzigt, jedenfalls was die 75 Maigret-Romane anbelangt. Zwischen April 2008 und Oktober 2009 hat Spreckelsen, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, einen Selbstversurch durchgeführt: Er las jede Woche einen Maigret-Roman und berichtete in einem Blog über jede Etappe – spannend angereichert mit Rubriken wie »Die Handlung in einem Satz«. Mit Angaben über Handlungsort und konsumierte geistige Getränke, neuen Erkenntnissen über Maigret und Madame Maigret und jeweils einem Lieblingssatz. Jetzt kann man den Selbstversuch erstmals in Buchform nachlesen. Der Maigret-Marathon ist sowohl ein Nachschlagewerk für Maigret-Fans als auch ein Einstieg für solche, die in die Maigret-Welt eintauchen oder einfach wissen wollen: Welchen Maigret soll ich als Nächstes lesen?

Rezension

Wöchentlich ein Buch zu lesen, ist nicht allzu schwer. 75 Wochen hintereinander aber immer denselben Autor lesen zu müssen, ist von ganz anderem Kaliber. Ich hatte mal bei einem Lesemarathon nach sieben Ausgaben Deborah Crombie die Segel gestrichen, aber da zuckt ein Tilman Spreckelsen nur müde mit den Schultern. Da musste er durch, denn jede Woche sollte eine Kolumne für die FAZ her. Entweder ist Spreckelsen ganz hart im Nehmen, oder aber er schätzt den Kommissar Maigret so sehr, dass er sich 75 Wochen lang von nichts und niemandem aus der Ruhe bringen lässt. Am allerwenigsten von Georges Simenon selber.

Tilman Spreckelsen formte sich einen Rahmen, in den alle Impressionen eingepasst wurden: Die Handlung zusammengefasst in einem Satz, gefolgt natürlich vom Schauplatz. Der obligatorische Mord gehört bei der Zusammenfassung in der Regel schon dazu, aber ohne ein erstes Urteil geht es in dieser Bestandsaufnahme oft nicht. Maigret „müht sich ab“ oder „verliert sich in der Suche nach dem plötzlich verschwundenen Klienten ebenso wie in der Großstadt“. Deutlich faktenlastiger fällt „Neues über Maigret“ aus. Die Höhe des Gehalts, die Fremdsprachenkenntnisse, die Wohnungssituation, Verwandtschaften und Vorlieben. Spreckelsen entgeht wenig und im Lauf der Zeit entsteht ein immer besseres Bild des bekanntesten aller französischen Kommissare. Madame Maigrets Besonderheiten listet er ab dem elften Fall ebenso gerne auf, gerät aber öfter an Grenzen, die Simenon gesetzt hat:

Und Madame Maigret? Kommt nicht vor“.

Niemals fehlen darf ein Lieblingssatz. Einmal, leider nur einmal, reagiert er in den Kolumnen direkt auf eine Leseranfrage und übernimmt den Vorschlag, den „Konsum geistiger Getränke“ penibel zu dokumentieren. Und da kommt in manchen Folgen einiges zusammen. Fall 57 (Maigret und der faule Dieb) wartet mit Kirschwasser, Pflaumenschnaps, Beaujolais, Cognac, Himbeergeist, Schnaps und Grog auf und scheint mir mehr Alkohol zu enthalten als Dashiell Hammetts Dünner Mann. Na gut, in Fall 55 (Maigret vor dem Schwurgericht) hatte sich Maigret sehr zurückgehalten und nur Bier getrunken, also gleicht sich das aus. Erst nach dem Abhandeln der Schnäpse widmet sich die Kolumne dem eigentlichen Fall und diskutiert über Schwächen und Stärken, Strategien und Fallen, Verdächtige, Abgründe und individuelle Einschätzungen. Zum Beispiel der hier über Simenons Talent, Charaktere zu entwickeln:

„Ob man Simenon seine Figuren glaubt, hängt ja gar nicht davon ab, ob man ähnlichen Menschen schon einmal begegnet ist, oder ob man sie für möglich hält, weil sie einem so glaubwürdig geschildert werden. Diesen genialen Arzt mit all den Frauen […] das kauft man dem Autor beim besten Willen nicht ab.“

Speziell dieser Abschnitt ist immer, kombiniert mit einleitenden Worten, der interessanteste Beitrag zum Werk. Nicht nur, weil sich Spreckelsen eben immer zu den einzelnen Büchern äußert und dem Leser ein kleines Maigret-Kompendium an die Hand gibt. Sondern auch und ganz besonders deshalb, weil er am laufenden Band Passendes zu seiner Lektüre findet und aufgreift, wie zum Beispiel das Urteil von Arno Schmidt über den Fall „Maigret kämpft um den Kopf eines Mannes“ und sein nonchalanter Satzanfang „Wie herrrlich blöd Schmidt generell geurteilt hat, wenn es um die Kriminalliteratur seiner Zeit ging, …“. Zack, denkt sich Spreckelsen, der gute Schmidt hatte von Simenon einfach keine Ahnung. Dafür erinnert er sich wohlwollend an einen Chanson von Jacques Brel, zitiert ihn brav und findet, man könne den Text bestens auf das Ehepaar Maigret anwenden.

Tilman Spreckelsen seziert die Romane aber auch, wenn es denn sein muss. Ihm fällt offenbar grundsätzlich auf, wenn Daten nicht zueinander passen. Maigret dürfte im Fall 29 eigentlich nicht mehr im Dienst sein, wenn die Angaben aus Fall 1 stimmen und Maigret hat in Fall 30 ein völlig anderes Geburtsdatum als in Fall 2. Aber eigentlich ist es egal, ob es passt oder nicht. Denn zwischenzeitlich klärt Maigret die Probleme selbst, wie so vieles, denn Maigrets Memoiren (Fall 35) decken auf, dass der Exjournalist Simenon sich als ziemlich unzuverlässig herausgestellt habe. Alles im grünen Bereich also.

Ansonsten wendet sich der eine Autor mit Hingabe zu dem anderen Autor. Der eine überlegt, wie sich das Leben des anderen in dessen Werken wiederspiegeln könnte, obgleich allerdings gegen Ende des Marathons auch dem einen, sonst recht wohlwollenden Autor, nicht klar wird, „ob Simenon nun nicht mehr genau weiß, was er will, oder ob er ausprobiert, was alles geht.“

Nach 75 Kolumnen ziehe ich meinen Hut vor Tilman Spreckelsen. Mögen es auch nun mal sein Beruf und eine freiwillige Selbstverpflichtung sein, aber monatelang ein und demselben Autor so viel Zeit zu widmen und dennoch die Texte immer so zu lesen, dass am Ende eine freundliche Auseinandersetzung und ein ebenso vielseitiger wie abwechslungsreicher Wegweiser dabei herauskommen, da muss echte Ehrfurcht oder wahre Liebe dahinter stecken. Oder beides.

Und Madame Spreckelsen? Spielt in diesem Buch keine Rolle.

Bibliografische Angaben

Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-25723-966-9
Erstveröffentlichung: 2009

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