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Fred Vargas – Das barmherzige Fallbeil

Fred Vargas – Das barmherzige Fallbeil

Innerhalb weniger Tage werden die Leichen einer Mathematiklehrerin und eines reichen Schlossherrn in Paris entdeckt, die vermeintlich Selbstmord begangen haben. Die brutale Szenerie alarmiert zwar die Polizei, doch es scheint keine Verbindung zu geben. Bis Jean-Baptiste Adamsberg auf unauffällige Zeichnungen an beiden Tatorten aufmerksam wird. Kurz darauf stellt sich heraus, dass die Lehrerin vor ihrem Tod dem labilen Sohn des zweiten Toten geschrieben hat. Der Brief führt Adamsberg auf die Spuren einer verhängnisvollen Reise nach Island, die zehn Jahre zuvor stattfand – und von der zwei Personen nicht zurückkamen. Sowie in die Untiefen einer Geheimgesellschaft, die sich Robespierre und der Terrorherrschaft während der Französischen Revolution verschrieben hat. Weitere Menschen sterben, und für Adamsberg beginnt ein Wettrennen gegen die Zeit und einen ebenso wandelbaren wie unbarmherzigen Mörder.

Rezension

Die kranke Alice Gauthier schleppt sich zum Briefkasten und versucht, einen Brief in die Banlieu zu schicken. Ihr Versuch klappt zwar nicht, aber der Brief findet seinen Empfänger auf wundersame Weise trotzdem. Kurze Zeit später wird Gauthier tot in der Badewanne aufgefunden. Alles sieht nach Selbstmord aus, aber der zuständige Kommissar Bourlin des Arrondissements hat auch nach sechs Tagen noch Zweifel an der Theorie. Eine Mischung aus Erfahrung und Instinkt sagt ihm, dass es so einfach nicht sein kann.  Kurz darauf erfährt das Kommissariat von Jean-Baptiste Adamsberg von dem Brief und beginnt die Zusammenarbeit mit den Kollegen. Sie finden einen zweiten Toten, versehen mit demselben seltsamen Zeichen wie der Tatort bei Gauthier. Bourlin und Adamsberg haben keinen Zweifel mehr daran, dass es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Fällen gibt. Damit geraten sie allerdings in eine ebenso verwirrende wie verworrene Reise durch ein Labyrinth von Möglichkeiten, denn der Zusammenhang alleine wird ihnen über lange Zeit keine Lösung liefern.

Die einzige Verbindung zwischen den beiden ist jeweils eine Reise nach Island, wo sich die beiden vor Jahren offenbar begegnet waren. Ansonsten verbindet die beiden Toten nichts weiter. Scheint die Islandreise zu Beginn die vielversprechendste Spur, verknoten sich im Anschluss viele widersprüchliche Hinweise zu einem undurchdringlichen „Algenknäuel“. Adamsberg lernt eine Gesellschaft kennen, die sich offiziell dem Studium der Schriften Robbespierres widmet. In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter ein mehrere hundert Mitglieder starker Verein, der sich historischen Rollenspielen widmet. Als heiße Spur eignen sich siebenhundert Menschen allerdings auch nicht, obgleich Adamsbergs Mitarbeiter und Superhirn Danglard von der Gesellschaft sehr fasziniert ist. Adamsberg lernt viel über Menschen, Verkleidungen und Rollen sowie die Veränderung von Charakteren, die sich daraus ergeben. Nicht umsonst nutzt die Gesellschaft ihre Treffen und Rollenspiele für psychologische Untersuchungen.

Die Spuren, Island und die Robbespierre-Gesellschaft, bleiben die einzigen, offenbaren sich gleichzeitig aber als unmöglich zu packender Nebel, der kein Geheimnis preisgibt. Adamsberg ermittelt, fährt quer durch die Gegend, um Menschen zu treffen und stellt Fragen. Einzig der Erfolg bleibt aus. In seinem Kopf mögen die Ideen sprießen und die getätigten Annahmen sorgsam auf Verlässlichkeit geprüft werden, in seiner Arbeitsgruppe jedenfalls sorgt das Herumtapsen fast für eine Spaltung der Gruppe in Adamsberg-Gegner und Mitstreiter. Adamsberg wäre nicht Adamsberg, wenn er nicht trotzdem eine Islandreise durchsetzen würde, an den Ort des Geschehens von damals. Auf eine winzige Insel vor Grímsey, auf der es außer Fels nichts gibt, nur den hartnäckigen Glauben der Inselbewohner an das magische Wesen Afturganga, das keine Besucher schätzt.

Vargas entwirft verschrobene Krimis, die nicht ansatzweise in der Realität funktionieren würden. Was ihr aber gelingt ist es, dass man keine Sekunde darüber nachdenkt, sondern sich von dem speziellen Kosmos ihrer Figuren einfangen lässt. Wenn Nachbar Lucio Adamsberg erklärt, dass ihn etwa die Ermittlungen juckten und er folglich kratzen müsse, dann ist das eine völlig ausreichende Rechtfertigung dafür, einen Trip nach Island zu buchen. Adamsberg weiß selbst dann haargenau, dass seine störrische Mitarbeiterin Retancourt dorthin mitkommen wird, obwohl sie sich tagelang vehement gewehrt und die Reise als unsinnig bewertet hat. Über die Bewohner des Hofes bei Sombrevert wacht ein zutraulicher Keiler und nicht zuletzt treffen Adamsberg und seine Kollegen auf Nachfahren derer, die während der französischen Revolution politisiert haben.

Insgesamt sind die Krimis von Vargas immer ziemlich opulent. Gefüllt mit historischen Details, raffiniert hineingezogen in die heutige Zeit, wo sie auf wundersame Weise Folgen haben, neues Leben bekommen oder in anderer Form eine Bedeutung für die Geschichte erhalten. So weit zurück reicht der Arm der Geschichte bei keinem anderen Autor. Dabei verliert sie mit ihrer überbordenden Fabulierlust irgendwie nie die Spur, auch, wenn es den Anschein hat. Alles, was sie erzählt, fügt sich in die Geschichte ein, die kleinen Bierchen mit dem Nachbarn, spontane Autofahrten zu Zeugen, Kostümierungen für das Rollenspiel, Ausflüge in die Geschichte der Revolution. Es gibt einfach keine Nebenschauplätze, die von Vargas als solche allein gelassen werden. Fred Vargas erscheint mir immer als eine Autorin, deren Stil man entweder mag oder nicht mag. Gibt es etwas dazwischen? Ich schätze nicht.

Bibliografische Angaben

Verlag: Limes
ISBN: 978-3-80902-659-4
Originaltitel: Temps glaciaires
Erstveröffentlichung: 2015
Deutsche Erstveröffentlichung: 2015
Übersetzung: Waltraud Schwarze

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