Cécil & Brunschwig – Holmes (1854/†1891?)

von Bettina Schnerr
4 Minuten Lesezeit
Header für den Beitrag über die Graphic Novel "Holmes" von C´cil & Brunschwig; Hintergrundfoto: Rodrigo M. Torres/unsplash; Cover: Jacoby & Stuart

Am 4. Mai 1891 schockiert eine Nachricht aus der Schweiz die Welt: Sherlock Holmes kam bei den Reichenbachfällen ums Leben, als er sich seinem Gegner Professor Moriarty entgegen stellte. Die Leichen der beiden wurden allerdings nie gefunden. Kurz danach wird Holmes’ Wohnung in der Baker Street 221b im Auftrag seines Bruders Mycroft verwüstet und geplündert. Dadurch sind alle Beweise für Sherlocks Kokainsucht vernichtet. Mycroft behauptet, dass Sherlocks Tod in Wahrheit ein Selbstmord war, mit der er der Zerstörung seines Gehirns durch die Droge entgehen wollte. Doch Watson weigert sich, diese Version zu glauben. Stattdessen startet er seine eigene Untersuchung, die ihn durch ganz Europa führen wird. Und nach und nach entfaltet sich vor uns die ungeheuerliche Geschichte von Sherlock Holmes und seiner geheimnisvollen Familie.

Über die Serie

Der Tod des berühmtesten Detektivs der Welt beschäftigt die Menschen seit jeher. Eigentlich ist das kein Wunder bei einer Figur, die nach wie vor von zahlreichen Menschen für echt gehalten wird. 2008 z.B. hielten 58% der befragten Teenager in Großbritannien Holmes für eine historische Persönlichkeit. Am jugendlichen Alter liegt’s übrigens nicht; in den 1950er Jahren waren es sicher ebensoviele Erwachsene, wie eine kurze Chronik im Buch erzählt. Umso herausfordernder ist es, eine Vorstellung davon zu entwickeln, was damals an den Reichenbachfällen wirklich passiert sein könnte.

In der Serie Holmes (1854/†1891?) kümmern sich beiden Franzosen Cécil als Zeichner und Luc Brunschwig als Szenarist um „die wahre Geschichte“. Ins Rollen kommt die Geschichte, als Holmes’ Wohnung verwüstet vorgefunden wird. Watson wird zügig von Wiggins hinzugeholt. Wiggins, der frühere Kopf der Straßenjungen (Baker Street Irregulars), die von Holmes gerne für Observierungen und Informationen angeheuert wurden, ist inzwischen ein gewitzter junger Mann mit einer Visitenkarte, die ihn als Privatdetektiv ausweist. Er arbeitet natürlich mit einer eigenen Gruppe von Straßenjungen zusammen, die längst die Spur der Einbrecher aufgenommen hat. Wiggins und Watson beginnen ihre Nachforschungen.

Die ersten drei Bände schaffen weit mehr als die bloße Idee, die Geschichte vom Kampf an den Reichenbachfällen weiterzuspinnen. Natürlich nehmen Watson und Wiggins zunächst die Familie Holmes unter die Lupe. Mycroft Holmes benimmt sich einfach zu seltsam und hat wenig mit dem hilfsbereiten Bruder zu tun, der vor Sherlocks Tod in den Geschichten eine Rolle spielte. Watson und Wiggins teilen sich auf: Watson reist nach einem Besuch an Holmes‘ Grab nach Frankreich, um mehr über die Familiengeschichte zu erfahren, während Wiggins sich in London umhört.

Über Wiggins‘ Suche nach der Laufbahn einer Krankenschwester führt die Geschichte auch ins Londoner East End, weg von den gepflegten Stuben der Oberschicht. Dort sorgt ein idealistischer Arzt für die Grundversorgung der Ärmeren und gerät an mysteriöse Todesfälle, die mit den miserablen Arbeitsbedingungen in der Industrie zusammen hängen. Die medizinische Forschung dazu steckt noch in den Kinderschuhen, ist jedoch schon so weit, dass sie die Zusammenhänge herausfiltern kann. Trotzdem lassen die gesellschaftlichen Schranken noch keine Anerkennung dessen zu, was die Arbeiter an ihren Arbeitsplätzen und Wohnvierteln ertragen müssen.

Eine weitere Erzählschiene nimmt den Leser mit in das Lazarett von Florence Nightingale in Scutari. Der Krim-Krieg lässt unablässig Verwundete eintreffen und Nightingale organisiert mit ihren rund drei Dutzend Mitarbeiterinnen das Lazarett, mobilisiert Gelder und es formen sich die Grundlagen der Reformen, die sie später im britischen Gesundheitswesen anstoßen wird. Auch in Scutari spielt ein Teil der Holmes-Familie eine Rolle.

Brunschwig entwirft ein raffiniertes Verwirrspiel, nie vorhersehbar und kontinuierlich rätselhaft. Sherlock Holmes, der sein Leben mit dem Entwirren komplexer Fälle zugebracht hatte, wird mitsamt seiner Familie selbst zu so einem komplexen Fall. Irgendjemand will gar verhindern, dass Watson und Wiggins zuviel Familiengeschichte entschlüsseln.

In den bereits erschienenen drei Bänden sind Wiggins und Watson gleichwertig unterwegs (während in aderen Sherlockiana oft eine spezifische Figur Holmessche Züge annimmt). Watson zeigt Beobachtungsgabe und Hartnäckigkeit. Wiggins‘ spielt sich ein bisschen auf, aber aus einer gewissen Notwendigkeit heraus — im Gegensatz zu Watson hatte er nie die Gelegenheit, sein Wissen und Ansehen über klassische Bildungswege aufzustocken oder allein über den Stand einen gewissen Respekt zu finden.

Die Bilder von Cécil passen ausgezeichnet zur tristen Grundstimmung, die oft von Verzweiflung oder Ratlosigkeit durchwoben ist. Alles ist eintönig, folglich passend monochrom koloriert. Dabei spielt die Farbwahl eine bewusste Rolle: Blaugrau und Grau stehen für den aktuellen Erzählstrang, Gelbbraun mit Grau steht für Szenen aus der Vergangenheit. Auf diese Weise löst Cécil auch die Herausforderung, gleichzeitige Abläufe sauber voneinander zu trennen, wie zum Beispiel in Band III, wenn aktuelle Geschehnisse aus London mit Geschichten vom Krimkrieg verwoben werden.

Sowohl Band II als auch Band III geben am Ende Einblick in das „Making of“.  Brunschwig und Cécil erklären, wie die Szenen aufgenaut werden oder welche Recherchen nötig waren, um historische Personen oder Gegenstände korrekt abbilden zu können.

Insgesamt ist die Serie auf neun Bände angelegt. Die Arbeiten an Band II zogen sich vier Jahre hin, verrät das zugehörige Nachwort und Brunschwig berichtet in einem Interview 2017, dass er zeitgleich an mehreren Projekten arbeitet und Holmes derzeit eines von drei ist. Aber auch, wenn sich das gesamte Holmes-Projekt wohl noch länger hinziehen wird, so ist es doch eine Serie, die sich gerade wegen des raffinierten Aufbaus und der Einbindung von Zeitgeschichte zu verfolgen lohnt.

Bibliografische Angaben

Verlag: Jacoby & Stuart
Übersetzung: Edmund Jacoby

Holmes (1854/†1891?) Abschied von der Baker Street, Erster Band
Originaltitel: L’Adieu à Baker Street / Les Liens du sang
ISBN 978-3-941087-51-4
Erstveröffentlichung: 2008
Deutsche Erstveröffentlichung: 2013

Holmes (1854/†1891?) Der Schatten des Zweifels, Zweiter Band
Originaltitel: L’ombre du doute
ISBN 978-3-942787-02-4
Erstveröffentlichung: 2012
Deutsche Erstveröffentlichung: 2014

Holmes (1854/†1891?) Die Dame von Scutari, Dritter Band
Originaltitel: La dame de Scutari
ISBN 978-3-942787-35-2
Erstveröffentlichung: 2015
Deutsche Erstveröffentlichung: 2015

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