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Graham Moore – Verweigerung

Graham Moore – Verweigerung

Justizthriller hatte ich schon länger nicht mehr in der Hand, obwohl ich mit diesen Büchern bisher immer gut gelegen habe. Inzwischen kann ich sicher sagen, dass auch Moores Titel „Verweigerung“ sich nahtlos in diese Riege einfügt. Ausgangslage für den Plot ist eine zehn Jahre alte Mordanklage, dessen damals zuständige Jury sich zum Jahrestag vor laufenden Fernsehkameras treffen soll. Die Jury bestand aus Laien, die (wie im US-amerikanischen System üblich) zufällig ausgewählt wurden. Ebenso zufällig wurden sie ausgerechnet einem der aufsehenerregendsten Prozesse zugeteilt. Die Tochter eines bekannten Immobilientycoons verschwand spurlos, die Leiche wurde nie gefunden. Daraufhin erhob die Staatsanwaltschaft Anklage wegen Mordes gegen einen schwarzen Lehrer, mit dem das Mädchen offenbar eine Affäre hatte.

Die Jury kam zu dem damals ungeheuerlich erscheinenden Urteil „nicht schuldig“. Ausgelöst von einer einzigen Jurorin, Maya Seale, die Stück für Stück die anderen davon überzeugte. Doch einem der Juroren ließ der Freispruch jahrelang keine Ruhe: Rick Leonard suchte wie besessen nach Fehlern und will für das Fernsehen nun offenbar neue Erkenntnisse auf den Tisch legen.

Das Drama setzt sich fort

Das vereinbarte Treffen endet mit einem Mord und ausgerechnet Maya Seale, die inzwischen selbst als Anwältin arbeitet, gerät unter Mordverdacht. Während ihre Kanzlei Varianten austüftelt, sie aus dem Schneider zu holen, setzt Seale alles daran, lieber die Wahrheit herauszufinden. Graham Moore erzählt diese Geschichte abwechselnd in Rückblenden und aktuellen Erzählsträngen. Das klingt zu Beginn verwirrend, ist aber sehr wichtig, um die Dynamik der ursprünglichen Verhandlung und der Menschen in der Jury zu verstehen.

„Verweigerung“ dreht sich in seinen beiden Schwerpunkten um Eigenheiten des US-amerikanischen Justizsystems und um die zahlreichen rassistischen Vorurteile, die das Zusammenleben prägen. In der Justiz sind beide Elemente beängstigend eng verwoben.

Wir kümmern uns direkt um die Gerechtigkeit. Oder das, was mit unserem Justizsystem der Gerechtigkeit am nächsten kommen kann.

Im Prinzip sieht das Verfahren gegen den Lehrer Bobby Nock ganz einfach aus. Ein schwarzer Angeklagter, der aus Angst schon gleich beim Verhör gelogen hat, muss praktisch schuldig sein, oder? Seale durchbricht das vorgezeichnete Muster, indem sie die Anklageformulierung präzise aufschlüsselt und ihre Schlussfolgerungen logisch darauf aufbaut — die spätere Anklage gegen Seale wird diese klassische Anklageform auf ziemlich fragwürdige Art aushebeln. Alles andere als fair, aber juristisch möglich: Einfach alle denkbaren Anklagen auf die Angeklagte werfen, irgendeine davon wird schon klappen.

Graham Moore - Verweigerung

Recht oder Gerechtigkeit?

Sieht man Parallelen wie diese, wird das Buch richtig spannend. Denn Moore lässt bei seinen Problemstellungen nie locker. Ausgerechnet auf die Wahrheit zu setzen, ist oft die schlechteste Idee. Das System verlässt sich praktisch täglich auf Deals und echte Unschuldige sind für Anwälte und Richter ein Problem. Die Unschuldigen wollen sich nämlich nicht auf Deals einlassen und irgendetwas zugeben, was sie nicht getan haben, nur für einen hoffentlich günstigeren Richterspruch. Selbst Seale, die als Anwältin weniger zimperlich ist, will sich bei ihrem eigenen Prozess nicht auf krumme Verteidigungstaktiken einlassen. Sie leistet sich eine „Verweigerung“.

Verknüpft mit dem Prozess ist immer wieder die Frage, welche Rolle unterschiedliche Kulturen und Hautfarben im Justizsystem spielen. In der Story tauchen zahlreiche dieser Aspekte auf: Da ist eben Bobby Nock, der auf Grund seiner Hautfarbe wenig Chancen auf einen Freispruch hat. Da ist zum Beispiel auch die stillschweigende Annahme, dass schwarze Jurymitglieder ihn aus Solidarität automatisch freisprechen müssten. Ihre vermeintliche „Verweigerung“ ist aber weitaus komplexer als Maya Seale das vermutet. Hier leisten Moores Rückblicke großartige Einblicke in die Motivationen seiner Figuren.

Und immer wieder flicht Moore natürlich ein gewisses Nachdenken über das Jurysystem an sich ein, das juristischen Laien tatsächlich schwerwiegende Entscheidungen überlässst. Graham Moores Verdienst ist es, diesen umfangreichen Stoff in eine sehr spannende Handlung einzubauen. Tatsächlich kommt der Roman auf eine Art daher, die den Drehbuchschreiber in Moore erkennen lässt. Flüssig geschrieben, szenisch wunderbar abgeholt und zu keiner Sekunde zäh und langweilig.

Bibliografische Angaben

Verlag: Eichborn
ISBN: 978-3-8479-0053-5
Originaltitel: The Holdout
Erstveröffentlichung: 2020
Deutsche Erstveröffentlichung: 2020
Übersetzung: André Mumot

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