Die Journalistin Lena Schnabl klappt von einem Tag auf den anderen zusammen: Diagnose Pfeiffersches Drüsenfieber und nichts ist mehr wie zuvor. Monatelang fehlen ihr die Kräfte, zwischen allen Handgriffen liegen stundenlange Pausen. Da bleibt viel Zeit zum Nachdenken und irgendwann erinnert sie sich an ihren Besuch der japanischen Insel Shikoku. Der ferne Ort verspricht Ablenkung, Besserung und ist voll von schönen Erinnerungen. Beim sehnsüchtigen Surfen im Internet fällt ihr der Pilgerweg auf dieser Insel auf (vielleicht sogar hier: Japan: Der Shikoku-Pilgerweg, Video bei arte). Kann das sein? Sie studierte Japanologie, war mehrfach in Japan unterwegs, kennt eine Handvoll Tempel auf Shikoku — und hat doch noch nie von diesem „henro-michi“ gehört?
Schnabl ist richtiggehend angefixt. Sie fängt an, wieder spazieren zu gehen und versucht, ihrem Körper immer wieder ein neues Stück Leistung anzutrainieren. Da gilt es auch, herbe Rückschläge wegzustecken, bis es eines Tages tatsächlich so weit ist: Lena Schnabl steht in Tokyo und bereitet ihre letzten Anreisekilometer vor.
Unterwegs mit Kobo Daishi
Den Weg „erfunden“ hat der Legende nach einst jener Kobo, über ehrerbietig den als „großer Lehrer, der die Lehre verbreitet“, Kobo Daishi, gesprochen wird. Bei jedem Tempel, der zur Route gehört, hat Kobo etwas Bedeutendes erlebt oder geleistet. Ganze 88 Stück dieser Tempel gibt es, rund um die Insel verteilt auf einer Wegstrecke von rund 1200 Kilometern. Manche liegen nah beieinander. Gerade im Süden gibt es aber auch Abschnitte, auf denen je nach täglicher Wegstrecke auch mal ein Tag ohne Besuch vergeht. Tempel liegen oft erhöht, sodass neben freundlich flachen Strecken giftige Anstiege warten können. Und das alles mit einem Körper, der dank Drüsenfieber immer noch keinen Bock auf Höchstleistung hat.
Lena Schnabl wird sich gerade am Anfang öfter verfluchen: Sie hätte es bequemer haben können, weniger Gepäck vielleicht oder überhaupt nicht herkommen müssen. Umso mehr bewundere ich die Hartnäckigkeit, mit der sie, immer noch nicht wahnsinnig fit, Stück für Stück weiter läuft. So hartnäckig, dass sie auch darauf verzichtet, sich die eine oder andere Strecke mit Bus oder Bahn zu erleichtern.
Die Weisheit des Onsen
Ihre Laufstrecken kommentiert sie nicht nur mit dem, was sie gerade über das Laufen denkt oder wie ihre Wege aussehen. Schnabl verknüpft immer wieder buddhistische Lehren oder Sprüche mit dem, was ihr passiert: Hängt das zusammen? Wenn ja, welche Schlüsse sollte sie daraus ziehen? Hara hachibu hat es mir zum Beispiel angetan. Hara hachibu ist der zu achtzig Prozent volle Magen, den ihr eine alte Frau im Onsen erklärt:
Guck mal, alle Leute wollen immer mehr und mehr und mehr. Hundert Prozent reichen denen nicht mal. Dadurch bekommen sie aber nicht mehr, sondern sind nur weniger zufrieden. Der Trick ist, mit achtzig Prozent zufrieden zu sein.
Das ist also nicht nur ein Anhaltspunkt für’s Essen, sondern eine richtige Lebensphilosophie. Immer wieder tauchen solche Menschen auf, bei denen man deutlich spürt, dass sie Schnabl etwas mit auf den Weg gegeben haben. Menschen auch, die die Pilger sehr klarsichtig wahrzunehmen scheinen. Schnabl bekommt mit „er ist verkorkst“ unter anderem eine Kurzanalyse über einen Mitpilger. So sehr sie seine Gesellschaft geschätzt hat, so überraschend zutreffend sickert das Gesagte bei ihr ein.
Überhaupt ist das Buch noch aus einem ganz anderen Aspekt heraus für mich sehr aufschlussreich gewesen: Shikoku liegt weitab von dem Japan, das wir von außen meist mit der Metropolregion Tokyo verbinden. Die Insel hat etwa 4 Millionen Einwohner, von denen alleine die Hälfte in den Hauptstädten der vier Präfekturen leben. Alles andere ist absolut ländlich; die Leute, auf die Schnabl trifft, mögen in vielerlei Hinsicht „typisch japanisch“ sein, gleichwohl sind sie offener, herzlicher und oft auch direkter. Mit Lena Schnabl lernt man Japan noch einmal ganz anders kennen.
Bibliografische Angaben
Verlag: Goldmann
ISBN: 978-3-442-15980-2
Erstveröffentlichung: 2019
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