Für Yoshie „Yotchan“ Imoto bricht eine heile Welt zusammen: Ihr Vater begeht Selbstmord, noch dazu mit einer anderen Frau. Gemeinsam mit ihrer Mutter übersteht sie die folgende Prozedur von Polizeibefragungen und Beerdigung. Jedoch ohne das Geschehene zu fassen, zu begreifen, geschweige denn verstehen zu können. Kurzerhand zieht sie aus der elterlichen Wohnung aus und versucht einen Neuanfang im Tokyoter Szeneviertel Shimokitazawa. Yotchan sucht Arbeit in einem kleinen Restaurant und bewohnt eine baufällige Wohnung direkt gegenüber. Eines Tages steht ihre Mutter vor der Tür. Der fällt in der alten Wohnung ebenfalls die Decke auf den Kopf und sie zieht auf der Suche nach einem eigenen Neuanfang von jetzt auf gleich bei ihrer Tochter ein.
Hin und wieder gehen die beiden gemeinsam essen und so fällt Yotchan auf, dass sich ihre Mutter langsam verändert: Das Essen macht ihr wieder Freude, die Portionen werden größer. Die Lust auf verschiedene Gerichte wächst. Doch den Selbstmord des Vaters und des Mannes zu verdauen, will nicht gelingen. Yotchan stürzt sich mit Akribie in die Arbeit und lässt Trauer und Gedanken gar nicht zu, während die Mutter tagsüber durch die Viertel zieht und sich einen neuen Bekanntenkreis erschließt. Erst die Kontakte zu einem ehemaligen Bandmitglied und dem Clubbesitzer, in dem Vaters Band oft spielte, zwingen Yotchan langsam aber sicher dazu, sich mit dem Tod des Vaters zu befassen.
Das nicht Fassbare begreifen lernen
Yoshimoto erzählt die Geschichte einer Aufarbeitung, die sich über ganze zwei Jahre ziehen wird. Ein ruhiger Erzählfluss, der langsam durch das Buch strömt. Tage bis Wochen vergehen, bis ein Gespräch oder Treffen neue Impulse verleiht. Das Gemächliche muss man mögen, das Fehlen dramatischer Elemente, fast schon die Stille dieser Erzählweise. Yoshimoto lässt Yotchan obendrein recht distanziert berichten, was besonders zu Beginn auffällt, als Yoshimoto sie die Vorgeschichte ihres Umzugs herunterbeten lässt. Yotchan erklärt sowieso ein bisschen viel, was diese Distanz erhöht (und damit zwar ihrem Herangehen an das Thema entspricht, doch auch diesen Erklärerei ist nicht jedermanns Sache).
Ein Besuch im Viertel Shimokitazawa
Moshi Moshi Shimokitazawa.
Auch Yotchan selbst ist eine Figur, mit der man warm werden muss. Sie blendet die unangenehme Vergangenheit sehr gerne aus, weigert sich fast, sich der Hilflosigkeit und ihrer Trauer zu stellen. Immer wieder betont sie, wie kindisch sie sei und was sie alles noch lernen müsse. Es hat manchmal mehr von einer Selbstbeschwörung als von der klaren Selbsterkenntnis, wie Yotchan sie hier schafft:
„Ich brauchte einen Ort, an den ich zurückkehren konnte, und deshalb wollte ich Mutter in unserer alten Wohnung haben. Ohne meinen Status als Kind aufzugeben, hatte ich mich spontan dazu entschlossen, auszuziehen und allein zu leben. Ich hatte mich, ohne zu überlegen, was damit verbunden war, einfach nur auf das Alleinleben gefreut.“
Vielleicht kommt bei der Selbstwahrnehmung junger Menschen ein kulturelles Phänomen durch, ebenso wie das bei dem Selbstmord des Vaters geschehen ist? Zwei Liebende, die gemeinsam in den Tod gehen: Die Mutter kann es nicht begreifen, weil sie von der anderen nichts wusste und die Ehe für normal hielt. Yotchan kann es nicht begreifen, weil sie von einer solchen Liebe keine Ahnung hat und dadurch erst Recht auf ihre Kindheit zurückgeworfen wird.

Insgesamt ein interessantes Buch, bei dem der Funke aber nicht so recht überspringen wollte. Die größte Faszination ging noch vom Stadtviertel Shimokitazawa* aus, das so anders sein soll, so lebhaft, bunt und ungezwungen, dass man es mit eigenen Augen sehen möchte.
Bibliografische Angaben
Verlag: Diogenes
ISBN: 978-3-25760-464-1
Originaltitel: Moshi Moshi Shimokitazawa, もしもし下北沢
Erstveröffentlichung: 2010
Deutsche Erstveröffentlichung: 2015
Übersetzung: Matthias Pfeifer
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