Als 1946 eine Reportage über Hiroshima in „The New Yorker“ erschien, lag das Kriegsende im Pazifik ein knappes Jahr zurück. Und sehr präsent dürften den US-Amerikanern noch die beiden Atombombenabwürfe als „entscheidendes Element“ gewesen sein, die die Kapitulation Japans zur Folge hatten. Inwieweit sich die Bomben in ihrer Wirkung allerdings von anderen unterschieden, war nicht so präsent – und auch bewusst nicht sehr verbreitet worden. „The New Yorker“ schickte John Hersey nach Hiroshima, um genau zu dieser Frage mit Überlebenden zu sprechen.
Entstanden ist die Reportage „Hiroshima“, in der Hersey das Geschehen mit den Berichten von sechs Personen rekapituliert. Dazu gehören der Pastor Kiyoshi Tanimoto, die Schneiderin Hatsuyo Nakamura, die Ärzte Masakuza Fujii und Terufumi Sasaki, Pater Wilhelm Kleinsorge und die Angestellte Toshiko Sasaki.
Während Frau Nakamura dastand und ihrem Nachbarn zusah, war plötzlich alles von einem grellweißen Blitz erleuchtet, so weiß, wie sie es noch nie gesehen hatte. … Der Mutterreflex ließ sie sofort zu ihren Kindern eilen. Sie hatte einen einzigen Schritte getan, als sie von irgendetwas emporgehoben wurde und über das eröhte Schlafpodest ins nächste Zimmer zu fliegen glaubte, verfolgt von Teilen ihres Hauses.
Das Buch beginnt mit den alltäglichen Arbeiten dieser sechs Personen am Morgen des 6. August 1945. Mit ihren Routinen, aber auch den kleinen Zufällen, die ihnen das Leben gerettet haben. Es erzählt von den Stunden und Tagen nach dem Abwurf. Nüchtern berichtet, und doch entsteht vor dem inneren Auge eine Vorstellung vom unvergleichlichen Grauen, das in Hiroshima geherrscht hat. So sehr, dass jeder der sechs Überlebenden schon nach kurzer Zeit keine besonderen emotionalen Regungen mehr wahrnehmen konnte. So sehr, dass sich auch die Fassungslosigkeit beim Lesen erst Bahn bricht, als Tanimoto im Chaos der Stadtruinen seiner jungen Nachbarin und deren Baby begegnet.
Versteckte Notizen und fleißige Physiker
Herseys Reportage geht durch die Erzählungen intensiv auf das Leben in der zerstörten Stadt ein. Mehrheitlich machten Gerüchte die Runde, was genau passiert sein könnte. Die japanischen Medien äußerten sich sehr zurückhaltend. Erst nach etwa einer Woche näherten sich die Gerüchte der Wahrheit an. Denn inzwischen waren viele japanische Physiker in der Stadt, die eigene Untersuchungen anstellten und die Fakten sehr präzise ermitteln konnten.
Aber: Die US-Amerikaner zensierten jede Erwähnung der Bombe in wissenschaftlichen Publikationen aus Japan. Das Material verbreitete sich unter den verschiedensten Experten natürlich dennoch und viele Japaner, die sich dafür interessierten, wussten besser Bescheid als die Nation auf der anderen Seite des Ozeans. Auch John Hersey selbst wurde bei seiner Reportage von den amerikanischen Behörden behindert, wie der Verlag schreibt.
Die Wissenschaftler hatten diese und andere Einzelheiten, die in den Vereinigten Staaten geheim gehalten wurden, gedruckt und vervielfältigt und in kleine Bücher gebunden. … Überhaupt waren die japanischen Wissenschaftler einigermaßen amüsiert über die Bemühungen der Sieger, die Atomspaltung geheim zu halten.
Auch nach Jahren noch hatten die Abwürfe in Hiroshima und Nagasaki Auswirkungen auf die Gesellschaft – in einer Form, die so nicht zu erwarten war. Die Überlebenden nannte man „hibakusha“ und diese waren wegen der neuartigen Krankheitsbilder durch die Strahlung massiven, oft quasi abergläubischen, Vorurteilen ausgesetzt.
40 Jahre danach
Für die Reportage räumte „The New Yorker“ kurzerhand eine gesamte Ausgabe frei. Wie bedeutend Herseys Arbeit war, lässt sich daran ablesen, dass die Ausgabe nicht nur innerhalb weniger Stunden ausverkauft war. Sie schilderte den USA ein ganz anderes (und ehrlicheres) Bild von den Abwürfen als alles, was bis dahin publiziert worden war. Darüber hinaus wurde das Buch innerhalb weniger Monate als Buch gedruckt, in anderen Ländern publiziert und Schauspieler lasen den Text für das Radio ein.
1985 erschien eine Ergänzung der Reportage. Hersey war erneut nach Japan gereist und schrieb „The Aftermath“, das seither in neueren Buchversionen ergänzt wurde. In der vorliegenden Ausgabe erscheint erstmals die deutsche Übersetzung und vervollständigt das Bild der Stadt, den sich entwickelnden Umgang der Japaner mit den Nachwirkungen und vor allem das Leben der sechs Portraitierten nach dem ersten Treffen mit John Hersey.
Die Stärke von „Hiroshima“ ist klar die Nähe zu den sechs Überlebenden, die Hersey erzeugt. Mitunter vergisst man, dass man eine Reportage in den Händen hält – obgleich die Erzählung schlicht und nüchtern bleibt. Aber mehr braucht es auch nicht, um die Personen greifbar zu machen und eine Stadt, die dem Erdboden gleichgemacht wurde, vor dem inneren Auge zu erzeugen. Inzwischen sind fast weitere 40 Jahre vergangen und diese Reportage ist in ihrer Wirkung, denke ich, ein zeitloses und nach wie vor lesenswertes Dokument.
Bibliografische Angaben
Verlag: Jung & Jung
ISBN: 978-3-99027-196-4
Originaltitel: Hiroshima
Erstveröffentlichung: 1946 (als Zeitschriftenartikel)
Deutsche Erstveröffentlichung: 2023 (inklusive Aftermath)
Übersetzung: Justinian Frisch, Alexander Pechmann
Foto: Shinano Rui, unsplash