Neun Uhr siebzehn: Der Tag von Johann Trost beginnt in einem Modellbauladen. Der pensionierte Pilot möchte sich mit einer kleinen Eisenbahnanlage die Zeit gestalten. Er verlässt den Laden mit Grasflocken in Tütchen, Figürchen im falschen Maßstab und überlegt, ob nicht Schnee angebrachter wäre. „Alpha Bravo Charlie“, die routinierte Ordnung, die er als Pilot jeden Tag erlebt hat, findet er in seiner Musterlandschaft vielleicht wieder.
Ein Modelltag beim Modellbauer
Wie kann ein Buch beim Lesen gleichzeitig so langweilig sein, dass ich über Abbruch nachdenke, und doch so interessant, dass ich Johann Trost folgen und begleiten möchte? Und dann auch noch als Buchtipp enden?
Tine Melzers Debut spielt an einem einzigen Tag und hat eine Hauptperson, die mit ihrer Zeit nicht recht etwas anzufangen weiß. Klar, da ist das Landschaftsmodell, das in der Küche aufgebaut wird. Aber der Tag hat so viele Stunden, dass Trost noch vieles andere unternehmen kann.
So geht der Tag dahin. Trost geht spazieren, ruht auf einer Bank aus. Er kehrt am Seeufer ein, geht in den Supermarkt und schaut aus dem Fenster. Nebenher denkt er über sein Leben nach, seine Prinzipien, seine Vorlieben. Und über all das, was er nicht mag.
Wenn wir schon freiwillig in Rudeln leben, dann vielleicht deshalb, weil wir getrost darauf vertrauen können, dass unsere nahen Artgenossen das, was sie täglich sehen, nicht mehr prüfend wahrnehmen.
Bitte nicht an die Scheiben klopfen
Bei Johann Trost könnte man einen Spruch aus dem Zoo an die Tür kleben: Bitte nicht an die Scheiben klopfen. Bitte nicht stören. Trost mag sich nicht auf andere Menschen einlassen, in der Distanz sind sie ihm am liebsten. Schon der Maßstab 1:65 war ihm zu groß für seinen Modellbau; 1:200 ist ihm da schon lieber.
Der Rentner geht in der Masse unauffällig unter. Gleichzeitig merkt er wohl, dass Distanz zueinander auch nicht das Wahre ist. Menschen in direkter Nähe nicht mögen, ist das Eine. Es bewusst wahrzunehmen, weil andere, am Cafétisch mit ihrem Freunden sitzend, regelmäßig soziale Netzwerke prüfen, ist ihm allerdings auch zuwider.
Die Neugier für ihre abwesenden Freunde hat manche Menschen zu nutzloser Tischgesellschaft gemacht.
Johann Trost hat das Gefühl, nicht in diese Welt zu passen. Ob das schon immer war? Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Denn er macht seinen Job dafür verantwortlich: Während hierzulande andere an dem Ort blieben, wo sie geboren sind, verbrachte er sein halbes Leben in Regionen rund um die Welt. Und nun findet er, passe er nicht mehr in diese Stadt. Nicht einmal sein Schritttempo scheint dem Ort angemessen. Traut er sich nicht, auf andere zuzugehen? Oder lassen die anderen nicht jene wohldosierte Menge an Kontakt zu, die er sich wünscht?
Unter Ausgewanderten gibt es keine Gemeinsamkeiten, außer jener, dass sie den Daheimgebliebenen ungläubig zusehen, wie sie sich am richtigen Ort wähnen, nur weil sie glauben, ein Recht auf Heimat zu haben. Was macht sie so sicher, dass sie anderswo nicht andere geworden wären, die ihnen besser gefielen.
Wo finden wir unser Zuhause?
Johann Trost stolpert in seinem Gedankenkarrussel, das sich den Tag über so munter dreht, regelmäßig den großen Themen über die Füße. Einsamkeit, Zugehörigkeit, Heimat und Fremdsein gehen Hand in Hand. Dabei hat Melzer mit dem Beruf des Piloten ein ähnlich grandioses Bild gefunden, wie Arno Camenisch mit dem Sessellift in „Der letzte Schnee„.
Pilot. Ein Beruf, der klar reguliert ist, unmissverständlich Wege definiert und Menschen untereinander zweifelsfrei zuordnet in Passagiere und Crew-Mitglieder. Was ist, wenn diese Sicherheiten fehlen? Ein Beruf, der Trost früh gelehrt hat, dass Erdkunde nur ein Modell ist. Sobald Städte, Hügel und Felder nach dem Abheben kleiner werden, merkt er nicht, welche Sprache dort unten gesprochen wird.
Das alles streift „Alpha Bravo Charlie“ auf nur 125 Seiten, verdichtet sich nachträglich beim Reflektieren des Buchs und als Einundzwanzig Uhr fünfzig Trosts Tag zu Ende geht, merkt man: Trost ist mit seinen einsamen Überlegungen nicht so alleine, wie er sich fühlt. Macht das Mut, über den eigenen Schatten zu springen?
Bibliografische Angaben
Verlag: Jung und Jung
ISBN: 978-3-99027-275-6
Erstveröffentlichung: 2023