Zwei Dinge fallen auf bei „Kork“ von Sophia Fritz und Martin Bechler. Das Eine ist die Covergestaltung, die ich sehr schätze. Der Schimpanse, der jedes Kanon-Buch ziert, bekam -thematisch passend- ausnahmsweise eine Flasche in die Hand gedrückt. Und der Schutzumschlag hat nicht umsonst Löcher: Das versteckte schlichte Cover mit weinrot-grünem Farbverlauf bekommt eine wunderbare Optik von Rotwein und weißen Trauben. Das Andere ist das Zitat von Isabel Bogdan auf dem Buchrücken: „Total blödsinniges Buch. Hervorragend!“
Just ihr erster Satz klingelte lange im Kopf, als ich mit der Geschichte von Sophia begann. Die ist Anfang 20 und kellnert im Bacchus, nachdem sie sich den Job mit gröberem Schwafeln über ihre angeblich winzernden Eltern ermogelt hat. Das Servieren gestaltet sie fürderhin nach eigenem Gusto. Zwar bestellen die Gäste ihren Wein präzise, Sophia aber bringt, was sie für richtig hält. Sophia hält sich für eine großartige Menschenkennerin und findet, sie könne besser beurteilen, was der Gast tatsächlich brauche. Stammgast Martin, der immer bei ihr am Tresen sitzt, scheint der Einzige zu sein, der den Schwindel durchschaut. Darüber kommen sie ins Gespräch und zwischen den Beiden entwickelt sich im Lauf der Zeit eine gewisse Vertrautheit.
Die Themen drehen sich mal um alltägliche Fragen wie Familienfeiern und Tourneen, werden aber Stück für Stück persönlicher und intimer. Sie machen sich Gedanken über das Leben von sarkastisch über philosophisch bis humorvoll. Sehr unsortiert insgesamt, also exakt so, wie man nun einmal Gedanken spinnt. Mir war oft nicht einmal klar, ob aus Sophias oder Martins Perspektive erzählt wird. Sehr viel genauer sind die Weinempfehlungen, die es säuberlich zu jedem Kapitel gibt. Wie diese hier zum Beispiel:
Weinempfehlung: Ivo Varbanov „Rosé Ceci n’est pas un Rosé“, Rusalka (Bulgarien)
Kombinierbar mit: der Körperschwere nach dem Schwimmen, Sprachnachrichten über fünf min, auf Schmerzmitteln eine gewaltige Oper anschauen
Da klingelt Bogdans Satz wieder: „Total blödsinniges Buch.“
Im Ungreifbaren auf den Punkt kommen
Der Witz an der Sache ist der: Bis zum Ende hin habe ich keine Ahnung, wie „Hervorragend!“ zustande kommt. Ich habe den Ritt durch die Lebensstationen einfach nicht verstanden — besser und genauer gesagt, ich habe nicht verstanden, worauf das Autorenduo am Ende eigentlich rauswill. Dafür, dass ich das Buch nicht wirklich fassen konnte, habe ich aber so einige Textpassagen markiert. Denn Sophia und Martin treffen im alltäglichen Nonsens, in der krümeligen Verwandtschaft oder den Stolperfallen von Beziehungen oft den entscheidenden Punkt und da findet man sich wieder.
Denn was die lachhaften, quergewickelten Abbiege-Darwinisten lange versucht haben, als Krone der Schöpfung zu verticken, entpuppt sich nach gerade mal einer Handvoll tausend Jährchen als fehlentwickeltes Ego-Schweinchen — fähig zu hässlichen Dingen wie Genoziden und bis heute anhaltenden weltweiten Verteilungskämpfen niederster Natur.
Oft genug sind es Fragmente ohne eigenen Geschichtenverlauf. Sophia und Martin selbst sind manchmal die echte Sophie und der echte Martin. Da die Autorin, die „die innere Gefühlswelt zum Freilichtmuseum“ macht, da der Musiker von Fortuna Ehrenfeld, der tatsächlich mit einem Winzer für einen eigenen Wein zusammenarbeitet. Und dann wahrscheinlich doch wieder nicht die Echten, aber wo sie in die Fiktion abbiegen, bleibt ihr Geheimnis.
Möglicherweise ist dieses dezent Ungreifbare genau euer Ding (und vielleicht findet ihr auch, was ich noch suche). Dann schaut euch „Kork“ auf alle Fälle an. Wenn nicht, kann sich ein Lektüreexperiment lohnen. Nicht so recht verstehen und trotzdem irgendwie immer wieder was Gutes finden und über die Essenz grübeln, das macht am Ende doch einen gewissen Reiz aus. Unverstandene Bücher, die das schaffen, gibt es gar nicht so viele in der eigenen Lesebiografie.
Bibliografische Angaben
Verlag: Kanon
ISBN: 978-3-98568-017-7
Erstveröffentlichung: 2022
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