Tine Melzer – Do Re Mi Fa So

von Bettina Schnerr
2 Minuten Lesezeit
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Einen allzu leicht zugänglichen Text hatte Tine Melzer mit „Alpha Bravo Charlie“ schon nicht geschrieben. „Do Re Mi Fa So“ setzt das Muster des Debütromans fort. Ein Mann sinniert, mehr oder weniger alleine, über sein Leben und die Welt. Eine Welt, die sich nicht sofort erschließt, die langsam sackt und schichtweise ihre Perspektiven eröffnet.

Opernsänger Sebastian Amadeus Saum legt sich am Abend seines vierzigsten Geburtstags zum Schlafen in die Badewanne und weigert sich tags drauf, wieder herauszukommen. Er verbringt den Tag im Badezimmer, bekommt das Essen von seinem WG-Freund Franz gebracht, schaut aus dem Fenster und tut – gar nichts. „Wohlstandsdepression“ nennt Franz das, was Sebastian nun zwei Wochen lang praktizieren wird. Jeden Tag bleibt er in der Wanne, mal ausgepolstert mit Kissen und Decken, mal mit Vollbad. Aus der anfangs fürsorglichen Verpflegung durch Franz wird zunehmend ein genervter Freund, den Sebastians merkwürdiger Rückzug verärgert und verstört.

Sebastian müsste eigentlich die Proben zu „Don Giovanni“ aufnehmen, bald auf Europa-Tournee gehen. Statt dessen findet er sich in einem endlosen Reigen scheinbar unsinniger Überlegungen wieder. Angetan haben es ihm vor allem die Kleidungsstücke, die er im Verlauf seines Lebens getragen hat. Was lösen die Erinnerungen an Socken, Pullover oder Laktritzreste in den Hosentaschen in ihm aus?

Immer wieder kehrt er gedanklich zum Blaumann. Das scheint ihm die einzige Kleidung zu sein, die etwas sinnvolles repräsentiert:

Meine neue angebliche Berufskleidung gab vor, gebraucht zu werden, weil irgendwo ein Automotor den Geist aufgegeben hatte oder eine Wasserleitung verstopft war. Blaumänner sind Ritter der Zivilisation, Retter in der Not.

Rückblick auf ein ganzes Leben

Tine Melzer - Do Re Mi Fa So

Der Blaumann könnte kontrastreicher nicht sein, im Vergleich zu Kostümen und Kunst, die keinen so offensichtlichen Zweck haben. Der Ort für seinen Rückzug ist es ebensowenig. Auf der einen Seite der Sänger, der beruflich im Mittelpunkt steht und seinen Job stets wie aus dem Ei gepellt absolviert, immer eine Rolle spielend. Völlig improvisiert und für einen Langzeitaufenthalt ungeeignet dagegen das Badezimmer, in dem er sich nackt und mit schmerzenden Schultern einigelt.

So auf sich alleine zurückgeworfen, mit nur gelegentlichem Kontakt zu Franz, rotieren die Erinnerungen. Viele sind sehr persönlich – und doch gelingt es Melzer, damit viele Lebensläufe abzudecken. Es geht um Prägungen, Freundschaften und Kindheitserfahrungen ebenso wie um den Erwartungsdruck von außen, Selbstbestimmung oder Privilegien. Aspekte, die sie in einem kurzen Abschnitt alle auf einen Punkt zu bringen vermag:

Und was, wenn ich eine Frau wäre? … Hätte ich überhaupt den Weg in die Badewanne gefunden, wenn ich eine Frau wäre?

Unerwartet schließt sich Sebastian Saum eng an „Die Party“ an, als er sein Privileg begreift und merkt: „Heldinnen fehlt einfach die Zeit zum Erzählen. Sie sind von Pflichten zum Schweigen gebracht, aufgerieben zwischen den Arbeiten, die für andere erledigt werden.“ Setzt man den Gedanken fort, profitiert auch Saum von jemandem, der ihm solidarisch unter die Arme greift. Der Haare schneidet, das Badezimmer putzt und ärztlichen Rat holt. Ohne Franz wäre die selbstgewählte Isolation gar nicht möglich. Erst, als Franz sein Engagement beendet, beginnt Saum, sich wieder auf seine eigene Aufgabe zu besinnen und wie er sie erfüllen möchte. Noch nicht auf demselben Niveau wie zuvor. Aber mit dem Blaumann fühlt er sich dem Neuanfang gewachsen.

Bibliografische Daten

Verlag: Jung und Jung
ISBN: 978-3-99027-406-4
Erstveröffentlichung: 2024

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