Wiederbegegnung mit einem Klischee
Vor kurzem hörte ich einen Satz, den ich schon fast vermisst hatte: „Du kennst dieses Buch nicht? Aber du liest doch so viel!“ Lange hatte mich niemand mehr so angesprochen. Doch nun bemerkte eine neue Bekannte erstaunt bis entsetzt, dass ich einen Titel nicht einmal ansatzweise kannte, den sie wiederum als Standard für einen bestimmten Themenkreis einschätzte. Logischerweise gefolgt von einem „Das musst du auf alle Fälle auch lesen.“
In meinem bisherigen Bekannten- und Familienkreis hatte man sich daran offenbar daran gewöhnt, dass ich eine Menge lese, aber auch eine ziemlich eigene Vorstellung davon habe, was auf den Tisch kommt. Das ging zwischenzeitlich so weit, dass ich kaum noch Bücher geschenkt bekam. Kann sein, damit ich nichts doppelt hatte. Was bisher übrigens nur einmal mit Stille von Tim Parks geschah. Kann auch sein, dass jemand Angst vor einem Fehlgriff hatte (was so oft übrigens gar nicht passierte).
Mittlerweile hat sich die Situation beruhigt. Zwei Seiten trauen sich noch an Bücher und beide lassen sich vorher von mir eine Wunschliste schreiben, damit auf alle Fälle ein Buch in Geschenkpapier eingehüllt wird, das in mein Beuteschema passt. Selbst so eine Wunschliste hatte aber schon für Unruhe gesorgt, nachdem kurz vor einem Geburtstag nicht einer der vielen genannten Titel in der Buchhandlung verfügbar war. Die Buchhändlerin hatte damals liebevoll nachgeholfen und entschieden, man solle der Einfachheit halber das erste Buch auf der Liste bestellen.
Ja, Vielleser sind nicht gleich Allesleser. Freilich gibt es solche Leser vermutlich in gröberen Mengen, die vom Liebesroman über den Krimi bis zu Memoiren alles verschlingen, aber ich gehöre nicht dazu (ich war es mal als Teenager, aber das ist bekanntermaßen eine Weile her). Ich lese viel, doch ich suche mir meine Bücher seit Jahren sehr gezielt aus. Wenn ich schon nur etwa 4000 bis 5000 Bücher in meinem Leben lesen kann, dann möchte ich welche haben, die mich interessieren, die mich packen oder beschäftigen. Interessen können sich zudem mit der Zeit verschieben: Fand ich in den 1990ern freche Detektivinnen klasse, bevorzuge ich gerade eben Krimiklassiker. Manchmal will ich von Büchern auch nur unterhalten werden. Nach dreihundert Seiten Unterhaltung ist es gut für eine ganze Weile lang und wehe dem, der meint, ich könnte Sophie Kinsella nach einem Durchgang noch einmal vertragen.
Schaue ich mich im Internet um, finde ich viele Vielleser, die ebenfalls tendenziell ihre persönlichen Schwerpunkte haben. Fantasy, deutsche Literatur, Klassiker oder eben auch Krimis. Ein Blick in die entsprechenden Blogs verrät schnell, ob es Vorlieben gibt oder nicht. Und vielfach geht es bei ihnen bei der Auswahl der Titel ähnlich zu.
Was mich bei meiner Auswahl leitet, sind Klappentexte, Podcasts, Texte im Internet, Kommentare in Foren, Anmerkungen in Social Media-Kanälen und mein Instinkt. Manchmal reicht ein kurzer Schubs, manchmal läuft mir ein Titel mehrfach über den Weg, bis ich zugreifen möchte. Alle diese Informationskanäle laufen durch meinen persönlichen Filter, der eine Menge Titel rauswirft und eine Handvoll übrig lässt. Ein über die Jahre geschliffener Filter, poliert durch viele Titel und Autoren, viele Leseeindrücke und Genreausflüge. Letztlich stelle ich außerdem fest, dass ich dank dieses Filters meist ein gutes bis sehr gutes Fazit zu einem Titel ziehen kann. Selbst dann, wenn ich mich zur Abwechslung in einem anderen Genre tummle.
Was nicht funktioniert ist die Erwartungshaltung, ich müsse als Vielleser genau dieses oder jenes Buch längst kennen oder allenfalls sofort die Lektüre nachholen, weil ein anderer das Buch nun mal klasse fand. Das Erstaunen über einen mir unbekannten Titel habe ich zwar schon lange nicht mehr gehört, dennoch wird es sicher nicht das letzte Mal gewesen sein.
Kennt Ihr dieses Allesleser-Klischee? Passt es zu Euch oder stört es eher?
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