Yuya Sato – Dendera

von Bettina Schnerr
4 Minuten Lesezeit
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Yuya Sato erweckt die japanische Legende „Ubasute“ zum Leben. Dabei wurden angeblich die Alten eines Dorfes zum Sterben an einen einsamen Platz gebracht, damit den anderen Dorfbewohnern mehr Nahrungsmitteln übrig blieben. Während es für eine reale Ubasute keine Belege gibt, passiert das im fiktiven Village jährlich beim rituellen Climb the Mountain. Jeder Einwohner wird im Winter nach seinem siebzigsten Geburtstag in ein weißes Gewand gehüllt, mit Sake verabschiedet und auf einen Berg getragen, um dort ins Paradies zu gelangen.

So geschieht es auch mit Kayu Saitoh. Sie legt sich in den Schnee und erwartet den erlösenden Tod, doch sie erwacht umgeben von alten Frauen, die sie noch von früher aus Village kennt.

„You were supposed to have Climbed the Mountain! You were supposed to be dead! What are you doing here?“ Kayu Saitoh asked.
„Living,“ said Hono Ishizuka.

Vor dreißig Jahren war es mit Mei Mitsuya erstmals einer Frau gelungen, den Climb zu überleben. Mitsuya wollte sich der Tradition bewusst entziehen und weiterleben. Sie begann, jedes Jahr zur Ubasute-Saison weitere Frauen vor dem Erfrierungstod zu retten. Mit ihnen gründete sie das Dörfchen Dendera auf der anderen Seite des Bergs und versammelt dort seither alle Überlebenden. Hierher kommt auch Kayu, der die Rettung und die Entdeckung des geheimen Dendera allerdings sehr zu schaffen macht.

Ein Leben im Rentnerinnendorf

Zum ersten Mal in ihrem Leben muss sich Saitoh mit einer unerwarteten Situation auseinandersetzen. Während im Village die Tage von Arbeit und vor allem Nahrungsbeschaffung bestimmt waren, und weder Zeit noch Notwendigkeit bestanden, über sich selbst, das Leben und ähnliches nachzudenken, muss sie nun genau das schaffen. Sie braucht neue Ziele, muss sich zurecht finden und findet noch nicht einmal Worte, um ihre Situation sich selbst gegenüber zu erklären, geschweige denn den anderen. Die wiederum einigen Vorsprung damit haben und Saitohs unerschütterliche Haltung mit ihren Überzeugungen herausfordern.

„You see, I always hated the idea of the Climb. It always seemed strange to me. You work hard all your life, you give your body and soul to growing food, bringing up your family, working for the Village, and then at the end of it all, just when you should be able to sit back and enjoy the fruits of all your labors, they take you to the top of the Moutain and dump you there. Does that really seem right to you?“

Im Lauf der Zeit hat sich die Gruppe der Hawks unter Führung von Mei Mitsuya gebildet, deren erklärtes Ziel ein Angriff auf Village ist, um sich für alle erlittene Unbill zu rächen. Ihnen entgegen stehen die Doves, die Dendera lieber stärken und ausbauen möchten. Doch das ist nur eine vordergründige Aufteilung der Frauen.

Die Ankunft von Kayu Saitoh bringt Unruhe ins Dorf, denn die alte Dame ist mit ihrer Rettung überhaupt nicht einverstanden. Sie wollte tatsächlich sterben, erwartete das Paradies und findet sich stattdessen in einem eiskalten, winterlichen Dorf mit ärmlichen Hüttchen wieder. Nur mit dem rituellen Gewand bekleidet, mickrigen Lebensmittelvorräten und ohne nennenswerte Werkzeuge. Ihre Meckereien gehen den anderen auf den Geist. Sie offenbaren Stück für Stück aber auch, welche Kämpfe die anderen Frauen während der Jahre mit sich und der Gruppe ausgefochten haben. Die Gräben brechen umso stärker auf, als eine Bärenmutter mit ihrem Jungen auftaucht, ausgehungert und auf der Suche nach Nahrung.

Sato erspart seinen Protagonistinnen wenig. Die Lebensumstände haben mit einer Utopie für die Geretteten wenig zu tun. Eine Alternative zum Village mit archaischen Traditionen voller Aberglauben kann man es schon kaum nennen, eine Alternative zum versprochenen Paradies ist Dendera erst recht nicht.

Was ist der Wert eines Lebens?

Zugleich ist Dendera eine hervorragende Plattform, um die unterschiedlichsten Perspektiven zu zeigen, die mit großen Themen wie Freiheit, Altern, Sterben und Tod einhergehen. Wie geht man mit neu gewonnener Freiheit um? Wie geht man damit um, ohne ähnliche Muster aufzubauen wie jene, denen man entkommen ist? Ist man undankbar oder dumm, wenn man diese Freiheiten nicht will, nicht damit umgehen kann oder sie aufgibt? So sehr die Frauen früher demselben Drill unterworfen waren, so entwickelten sie dennoch unterschiedliche Ideen. Zum Beispiel dazu, was es mit dem Paradies auf sich haben könnte. Kyu Hoshina meint, sie verpasse gar nicht so viel:

„As far as I can tell, Paradise is just a place where people’s thoughts and dreams go, so it’ll be just as full as hope and despair and anger and wishes as anywhere else. Can you really call that happiness? No, when you die, nothing changes and nothing ends. […] There’s no peace. No rest. That’s why we all have to carry on living, as best as we can.“

Dendera wird mitunter brutal und blutig. Und damit meine ich nicht einmal die üblen Traditionen des Village, um die Bewohner unter Kontrolle zu halten. Die Bärin greift mehrfach an und Yuya Sato beschreibt den Kampf immer recht bildlich. Auch ein Verzweiflungsangriff während einer Epidemie gerät zu einem gruseligen Showdown.

Am Ende bleiben von den einst fünfzig Bewohnerinnen Denderas nicht mehr viele übrig. Umso mehr müssen sie sich überlegen, welche Ziele sie sich persönlich setzen wollen. Nur dieses Mal nicht mehr für eine Gruppe, sondern jede für sich. Damit kommen sie der ursprünglichen Situation, die sie beim Climb the Mountain angetroffen haben, nochmals am nächsten.

Der Verlag Haikasoru sagt von sich selbst, es sei das erste Imprint der USA, das sich mit einer Auswahl von Award-Gewinnern, Klassikern und Neuentdeckungen daran machen wolle, Literatur aus Japan bekannt zu machen — als „high castle“ für Science Fiction und Fantasy. Wer Japan weiter entdecken will, als deutsche Übersetzungen das zulassen, kann sich bei diesem Verlag durchaus inspirieren lassen.

Ein Dendera gibt es übrigens wirklich; es handelt sich um eine alte Tempelanlage in Ägypten, die der Göttin Hathor gewidmet war. Hathor war unter anderem Totengöttin, Beschützerin aller weiblichen Wesen, Göttin der Liebe und des Friedens. Wo auch immer Yuya Sato den Namen für sein Dendera gefunden hat, kaum einer dürfte besser passen.

Bibliografische Angaben

Verlag: Haikasoru
ISBN: 978-1-4215-8215-3
Originaltitel: Dendera, デンデラ
Erstveröffentlichung: 2009
Englische Erstveröffentlichung: 2015
Übersetzung: Nathan A. Collins, Edwin Hawkes

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2 Kommentare

Christin 10. Februar 2018 - 12:07

Uh, das klingt richtig gut! Werd ich mir mal vormerken 😀

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Bettina Schnerr 11. Februar 2018 - 8:41

Wenn du zum Lesen kommst, dann bin ich gespannt auf deinen Eindruck.

Ich musste mir während des Lesens immer wieder klar machen, dass hier auch personell eine Besonderheit vorliegt: Alle Hauptpersonen sind Frauen, alle Hauptpersonen sind über 70 (mit ganz wenigen Ausnahmen, die erklärt werden). So ein Setting ist in meiner Lesebiografie absolut einzigartig.

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