David Peace – Tokio im Jahr Null

von Bettina Schnerr
2 Minuten Lesezeit
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Die Stadt Tokyo besteht im Jahr 1946 aus verkohlten Ruinen und Schuttbergen, die Parks sind sich selbst überlassen. Nur durch Zufall findet jemand im Shiba Park eine Frauenleiche. Kurz darauf, verdeckt vom wuchernden Bambusgras, findet man zehn Meter weiter eine zweite. Die Polizei setzt zwei Ermittlungsgruppen ein, für jedes Opfer eine. Die Männer werden ab sofort in einem improvisierten Ermittlungsquartier wohnen und arbeiten, und das so lange, bis der Fall gelöst ist.

Mittendrin als einer der Gruppenleiter steht Inspektor Minami. Er ist ein ehemaliger Soldat, der in China gedient hat, und nun versucht, sich ein neues Leben aufzubauen, verfolgt von grausamen Erinnerungen. Minami hasst jeden einzelnen Tag der Arbeit. Wohl hat er den Ehrgeiz, den Täter zu finden und den ermordeten Frauen Gerechtigkeit zukommen zu lassen. Aber nichts in seinem Umfeld passt ihm. Es ist zu heiß, es juckt ihn ständig, die Geräusche und Gerüche nerven. Die Vorgesetzten haben keine Geduld, die Mitarbeiter findet er unfähig und falsch. Halt sucht er bei seiner Geliebten und zahllosen Tabletten, die er sich bei der Yakuza erkauft.

„Ich kenne Sie“, brüllt er mir nach. „Ich kenne Ihre Geheimnisse …“
Ich drehe mich um und sage: „Wir haben einen Krieg verloren — wir alle haben Geheimnisse.“
Hayashi grinst und schüttelt den Kopf.
„Aber nicht solche wie Sie, Inspektor.“

Minami ist ein vom Krieg zerrissener Mensch in einer vom Krieg zerfetzten Stadt. Das Einzige, was in Tokyo reibungslos wieder funktioniert, sind Korruption, Prostitution und die Yakuza. Nach der Kapitulation liegt alles andere am Boden und ist mit dem Aufbau einer neuen Identität beschäftigt, jener als Land, jener als Mensch. Minamis Standardgedanke: Keiner ist der, der er zu sein vorgibt …

Inspiriert von einem wahren Fall

Den Fall des Frauenmörders Kodaira Yoshio gab es tatsächlich. Eines der damaligen Opfer löst das Geschehen im Buch von David Peace aus. Dieser Kodaira allerdings bildet nur den Rahmen für ein Endzeitszenario, das Peace bildlich wie sprachlich erstehen lässt. Mit Hilfe von gedanklichen Einblendungen, unterschiedlichen Satzbildern und wiederkehrenden Wortfolgen nimmt man als Leser jede Regung von Minami mit, jeden Gedankenfetzen, jeden Geruch. Ständig gerät man zwischen die Fronten von Realität und Imagination. Dazu immer wieder schmerzhafte Erinnerungen an Minamis Einsatzzeit in China. Während andere versuchen, auf dem Land Lebensmittel zu ergattern, ihre Häuser wieder aufbauen, übergibt er sich ständig, isst kaum etwas, schluckt Tabletten … und kratzt sich schon wieder.

Minami versucht, Spuren zu folgen, Akten zu suchen, Informationen zu bekommen. Er sucht Zeugen in Stadtvierteln, die dem Erdboden gleichgemacht wurden. Er erlebt den unfassbaren Kontrast zwischen Tokyo in Trümmern und dem Umland, in dem die Menschen Nahrung und Arbeit haben und den Großstädtern die Schuld an dem ganzen Desaster geben. Währenddessen verschwinden in Tokyo seine Kollegen tagelang von der Bildfläche und treiben eigene Spielchen.

Irgendwann lässt sich nur noch schwer auseinanderhalten, wer gegen wen spielt, wer welche Ziele verfolgt. David Peace liest man nicht, man arbeitet an dem Buch — und weiß am Ende doch nicht alles. Letztlich erzählt dieses Buch nicht die Geschichte eines Inspektors oder eines Mörders. Ich denke viel eher an ein expressionistisches Gemälde, von David Peace umgesetzt mit Sprache. Als Motiv ein Land, das seinen Weg wie ein Phönix aus der Asche sucht und dabei über allerhand Altlasten stolpert.

Man wird eine Lüge nach der anderen erfinden, eine nach der anderen nach der anderen …
Bis schließlich jeder diese Lügen glaubt.

☞ Fotos aus der Nachkriegszeit kann man sich unter anderem auf Old Tokyo anschauen (zum Beispiel mit dem Suchwort Postwar Tokyo).

David Peace - Tokio im Jahr Null

Bibliografische Angaben

Verlag: Liebeskind
ISBN: 978-3-935890-65-6
Originaltitel: Japan Town
Erstveröffentlichung: 2013
Deutsche Erstveröffentlichung: 2009
Übersetzung: Peter Torberg

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