Raus aus der Großstadt, raus aufs Land: Die junge Asahi und ihr Mann ziehen nach seiner Versetzung in die Provinz, direkt benachbart zu seinen Eltern. Nicht allzuweit weg von der Stadt, doch weit genug, dass tägliches Pendeln für sie nicht so attraktiv ist. Asahi kündigt und bereitet sich zunächst auf ein Leben als Hausfrau vor.
Die Hitze ist unglaublich, die Zikaden lärmen jeden Tag ohne Unterlass und Asahi hat nichts zu tun. Eines Tages bittet die Schwiegermutter Asahi, für sie eine fällige Einzahlung im Konbini zu machen. Auf dem Weg dorthin lässt sich die junge Frau ablenken, biegt Richtung Fluss ab und … fällt in ein Loch. Erst eine Nachbarin kann ihr heraushelfen. Eine Frau im weißen Kleid, die sie noch nie zuvor gesehen hat, die aber umgekehrt recht genau weiß, wer Asahi ist und warum sie ins Dorf gezogen ist.
Sie haben also viel Zeit. Das kann auch anstrengend sein. Endlose Sommerferien gewissermaßen.
Ab diesem Tag nimmt Asahi ihre Umgebung immer wieder als sehr irritierend wahr. Ihr Mann kann nicht helfen. Er ist wegen seiner Arbeit kaum zuhause und in der neuen Umgebung möchte sie auch niemandem mit Fragen zur Last fallen.
Der Großvater steht tagaus, tagein mit dem Schlauch im Garten und wässert. Ein merkwürdiges Tier läuft durch die Gegend, gräbt Löcher wie jenes, in das sie hineingefallen ist. Und der einzige Mensch, mit dem sie sich unterhalten kann, ist ein Mann, der hinter dem Haus in einem umgebauten Schuppen lebt und sich als Hikikomori vorstellt. Er sei ihr Schwager, sagt er. Doch seltsamerweise hat die Familie noch nie erwähnt, dass ihr Mann einen Bruder hat. Nur der Großvater scheint ihn ebenfalls wahrzunehmen.
Alice und Asahi im Wunderland
Hiroko Oyamada zaubert in „Das Loch“ eine Welt, die zwischen Realität und Fantasie schwebt. Asahi setzt sich, wie der vermeintliche Schwager feststellt, wie Alice im Wunderland neugierig auf die Spur eines Tiers. In der Hitze und ohne besonderen Kontakt zu anderen, nicht einmal den Schwiegereltern, ist Asahi auf sich alleine gestellt. Ihre Wahrnehmung scheint seit dem Umzug Kopf zu stehen.
Der Roman, ausgezeichnet mit dem Akutagawa Preis, verrät bis kurz vor Ende allerdings nicht, wie sich die ungewohnt bedrohliche Atmosphäre auflösen wird – oder ob überhaupt. Auf Anhieb erinnerte mich die Kurzbeschreibung zunächst an die beiden jüngsten Bücher von Sayaka Murata (ein Eindruck, den auch Florian Valerius teilte). Doch Oyamada führt ihre Geschichte in eine andere Richtung. „Das Loch“ ist weniger bissige Gesellschaftskritik, als vielmehr eine schmerzende Momentaufnahme.
Die Kunst, sich aus dem Loch zu befreien
Bei uns gibt es das geflügelte Wort „in ein Loch fallen“. Ob das in Japan sinngleich exisitiert, kann ich nicht sagen. In der Übersetzung jedenfalls entwickelt der Buchtitel idealerweise jene Doppelbedeutung.
Das surreale Loch, in das Asahi fällt, ist die Tatenlosigkeit, zu der sie der Umzug verdammt. Er versetzt sie erst einmal in eine gewisse Desorientierung und Mutlosigkeit. Was anfangen mit der vielen Zeit? Als Hausfrau ohne Kinder kann sie ihre Zeit kaum gestalten und selbst mit Kindern dürfte es schwierig werden. Es ist, wie die Nachbarin erzählt, zwar nicht mehr so schlimm wie früher, aber immer noch sehr provinziell. Kaum ein Bus fährt, es sind weder Büros noch Schulen in Reichweite. Wer kann, zieht von dort weg. Die Situation auf dem Land ist prekär.
Der Umzug aufs Land setzt Asahi nicht nur einer ungewohnten Situation aus. Was für einen Umzug an sich normal ist. Die neue Umgebung gibt aber kaum etwas her, um sich einzurichten. Kaum noch Einwohner, magere Infrastruktur. Wer diesen Schritt tut, ist auf sich alleine gestellt — oder fühlt sich je nach Situation mindestens so. Hiroko Oyamada verleiht diesem beängstigenden Gefühl ein Gesicht.
Ein Detail großartiger Gestaltung
Das Titelbild des Romans ist ein Stilleben von Doan Ly. „Nicht die Floristin, die die Großmutter wählen würde“, schreibt das US-amerikanische Kunstmagazin Artspace über ihre Arbeit. Ihr fast überirdisch schönes Motiv mit Tulpen und Mohnblumen spielt mit Licht und Verwirrung – die Blüten scheinen von überall her zu kommen. Und mit dem Titel „Come Meet Me Here“ scheint es zudem wie gemacht für eine Frau, die nicht so recht weiß, welches „here“ für sie in der neuen Umgebung gedacht ist.
Ly, die Autodidaktion, hat sich vor allem einen Namen gemacht über die selbst geschossenen Fotos ihrer Arrangements. Einen Teil davon veröffentlichte sie im vorigen Jahr im Bildband „Still Life“.
Bibliografische Angaben
Verlag: Rowohlt
ISBN: 978-3-498-00486-6
Originaltitel: Ana / 穴
Erstveröffentlichung: 2014
Deutsche Erstveröffentlichung: 2024
Übersetzung: Nora Bierich
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