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Nadja Spiegelman – Was nie geschehen ist

Nadja Spiegelman – Was nie geschehen ist

Nadja Spiegelman - Was nie geschehen ist

Nadja Spiegelman erzählt mehr als ihre eigene Geschichte. Sie zeichnet die Lebenswege dreier Frauen nach, deren Schicksale kaum enger miteinander verknüpft sein könnten. Ein eindrucksvolles Debüt über die blinden Flecken in Familien, über die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerung und über die Kraft des Erzählens.

Als Kind glaubt Nadja Spiegelman, ihre Mutter sei eine Fee. Ein besonderer Zauber umgibt Françoise Mouly, die erfolgreiche Art-Direktorin des New Yorker. Erst Jahre später, als Nadja allmählich zur Frau wird, bricht dieser Zauber. Immer häufiger trifft sie die plötzliche Wut der Mutter, ihre Zurückweisung, ihre Verschlossenheit. Nadja ahnt, dass sich in Françoises Ausbrüchen deren eigene Familiengeschichte widerspiegelt, und sie beginnt, der Vergangenheit nachzuspüren. In langen Gesprächen mit ihrer Mutter und ihrer Großmutter stößt sie auf unsagbaren Schmerz und widerstreitende Erinnerungen, aber auch auf die Möglichkeit, im Erzählen einen versöhnlichen Blick auf die Vergangenheit zu finden. Ein poetisches, zutiefst ehrliches Buch, das offenlegt, warum uns die, die wir am meisten lieben, häufig am stärksten verletzen.

Rezension

Zu Familie Spiegelman gehört eine inzwischen weltbekannte Geschichte, die einst der Vater von Nadja Spiegelman aufgezeichnet hat: Die Graphic Novel „Maus. Die Geschichte eines Überlebenden“ erzählt von Spiegelmans Eltern, die den Holocaust miterlebt haben. Erstmals gab es 1992 eine Pulitzer-Preis für einen Comic. Nadja Spiegelman wurde im direkten Umfeld des bekannten Vaters groß, kannte früh die Werke und Themen. Ihre Mutter Françoise Mouly arbeitet inzwischen seit 1993 als Art Editor beim New Yorker und wurde 2013 selbst Hauptperson einer Biografie.

Irgendwie muss die Idee einer aufgeschriebenen Familiengeschichte in der Luft gelegen haben, als Nadja Spiegelman eines Tages entschied, sich intensiver mit ihrer Mutter über die Familie zu unterhalten, der Notizblock und das Aufnahmegerät quasi auf dem Schoß. Das Projekt Familiengeschichte zog sich über mehrere Jahre. Irgendwann kam auch Françoises Mutter Josée zum Projekt dazu, die in Paris lebt und zusätzlich noch Geschichten über ihre Mutter und deren Großmutter berichten konnte.

„Du weißt schon, dass das, was wir hier machen, große Ähnlichkeit mit Maus hat. Also mit dem, was dein Vater gemacht hat, als er seinen Vater interviewt hat.“

Spiegelman notiert oft nur kleine Szenen aus der Familie, gleichermaßen als Beobachterin und Beteiligte. Ihr fallen besonders harsche Kritiken auf, kritische Bemerkungen, giftige Sprüche. Verletzende Szenen nimmt sie unter die Lupe, beginnt mit Nachfragen und kriecht dabei immer weiter zurück in der Familiengeschichte. Sie stellt fest, dass auch ihre Mutter eine Mutter hatte, die stichelte und die Mutterliebe offenbar sehr ungleichmäßig verteilte.

Einmal nahm einer ihrer Freunde mich beiseite und sagte mir, die Ungleichheit, mit der sie uns behandle, sei nicht normal. Daran hielt ich mich fest. Es war der einzige Beweis, den ich hatte. Weder meine Mutter noch mein Vater noch mein Bruder teilten meine Sicht auf die Vergangenheit.

Lange war mir nicht klar, worum es in diesem Buch gehen sollte und, ehrlich gesagt, ist es nach wie vor so. Nadja Spiegelman brauchte die Interviews mit ihrer Mutter und der Großmutter wohl in erster Linie persönlich, um das schwierige Verhältnis zur Mutter zu überwinden. Dass daraus ein Buch geworden ist, scheint eher in der Natur der Familie zu liegen als darin, anderen Töchtern damit Halt zu geben nach dem Motto „Ihr seid nicht allein.“

Was an Spiegelmans Buch tatsächlich interessant ist, sind die Gedanken über Erinnerungen. Durch die Aufzeichnungen verfügt sie über ein reales Protokoll der Erzählungen, das zum Abgleich herangezogen werden kann. Es kommt unweigerlich zu Veränderungen: Nicht nur die Großmutter erinnert sich an Szenen anders als Françoise, selbst Françoise berichtet über Details und Abläufe bei Neuerzählungen anders. Nadja geht es ebenfalls so, wenn sie Geschichten abklärt, die sich zwischen ihr und ihrer Mutter abgespielt haben.

„Aber das ist doch unglaublich“, sagte ich. „Wie Geschichten sich verändern. Wie unterschiedlich wir uns erinnern.“

Irgendwann merkt Spiegelman selbst an, dass sie nicht die Geschichte ihrer Mutter aufschreibe, sondern genau genommen die Version, die sie erzählt bekommen hatte. Dass sie selbst zum Beispiel Momente der Erinnerung zu Eigenheiten der Mutter aufgebaut hatte, die diese gar nicht hatte. Die Reflektion über Erinnerungen und deren Veränderlichkeit ist das wirklich Spannende an Nadja Spiegelmans Projekt. Allerdings trägt das nicht über ein komplettes Buch. Letztlich bleibt es am Leser, die Wahrnehmung über die Geschichte der Spiegelman-Frauen zu sortieren. Die Erinnerungen an das, was geschehen ist, sind veränderlich, doch die Gefühle, die diese Ereignisse ausgelöst haben, sind das, was bleibt, sind das, was prägt.

Bibliografische Angaben

Verlag: Aufbau
ISBN: 978-3-351-03705-5
Originaltitel: I’m Supposed to Protect You from All This
Erstveröffentlichung: 2016
Deutsche Erstveröffentlichung: 2018
Übersetzung: Sabine Kray

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