Yoko Ogawa – Insel der verlorenen Erinnerung

von Bettina Schnerr
3 Minuten Lesezeit
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Auf einer namenlosen Insel verschwinden nach und nach Dinge. Mal Parfum, mal eine Mundharmonika, mal Glöckchen, mal Haarbänder. Die Menschen trennen sich meist leichthin von den Dingen, die ab einem bestimmten Zeitpunkt offiziell verboten sind. Was noch vorhanden ist, wird zusammengetragen und verbrannt. Die Inselbewohner gewöhnen sich an die Lücken und führen ihr Leben weiter. Ganz nach dem Motto, bisher sei es ja auch immer gut gegangen (falls jemand Parallelen vermutet: mit dem neckischen Verschwindespiel von Genki Kawamura hat Ogawas Buch nichts zu tun). Mit den Dingen zusammen aber geht auch die Erinnerung. Langsam verkümmert das Wissen um Gegenstände, die das Leben einst begeleitet haben. Selbst, wenn die Inselbewohner einen früher alltäglichen Gegenstand sehen, löst er keine Empfindungen mehr aus. Das Vergessen geschieht stets vollständig.

Es ist schon merkwürdig, dass wir auf einer Insel, wo früher oder später alles verschwinden soll, mit Worten etwas erschaffen können.

Eine junge Schrifststellerin erlebt, dass es auch andere Menschen gibt. Solche, deren Erinnerung nicht verschwindet. Ihre eigene Mutter zum Beispiel. Sie war Bildhauerin und sammelte gar die verschwindenden Gegenstände. Für Menschen mit Erinnerung allerdings gibt es die Erinnerungspolizei. Wer sich erinnern kann, gefährdet die Politik des Vergessens und über die Jahre geht die Polizei immer offener gegen Menschen mit Erinnerung vor. Wurde die Mutter der Schriftstellerin nach ihrer Vorladung noch mit einer Limousine unter Vorspiegelung harmloser Pläne abgeholt, setzen sich bald militärische Laster durch. Ohne Vorankündigungen verschleppt die Polizei ganze Familien und verfrachtet sie an unbekannte Orte. Nachbarn verschwinden im Untergrund, verstecken sich und werden versteckt. In der Hoffnung, dass sie den häufigen Razzien entgehen.

Gegen das Vergessen

Yoko Ogawa zeichnet mit Hilfe ihrer schreibenden Hauptperson das Bild einer totalitären Regierung, die ihrem Volk immer mehr enzieht. Vergleichsweise harmlose und vielleicht verzichtbare Dinge, wie eine Spieluhr, bereiten den Boden dafür, dass die Leute immer mehr hinnehmen. Verbindungen zu anderen Landesteilen werden ebenso gekappt wie einzelne Berufe und sogar Tiere der Umgebung verschwinden. Die Gewöhnung geht so weit, dass sich die Menschen ihre Verluste schön reden. Selbst, als schließlich Bücher verbrannt werden und sich jemand an ein passendes Heinrich-Heine-Zitat erinnert. Selbst, als die Lebensqualität massiv durch Lebensmittelknappheit und künstliche Klimaveränderungen beeinträchtigt wird.

Einzig der Lektor, mit dem die Schriftstellerin zusammen arbeitet, wehrt sich aktiv gegen das Vergessen. Er lebt seit Monaten schon in einem Versteck bei ihr, in dem sie ihn vor der Erinnerungspolizei beschützt. Denn der Lektor gehört zu jenen Menschen, die ihre Erinnerungen behalten können. Obwohl mit dem Verschwinden der Bücher auch die schriftstellerischen Fähigkeiten der jungen Frau rapide abnehmen, besteht er darauf, dass sie ihr Manuskript fertig stellt.

Irgendwann stellte ich verblüfft fest, dass ich mich nicht einmal mehr an den Klang meiner eigenen Stimme erinnern konnte. Ich hätte es niemals für möglich gehalten. dass ich so etwas wie meine Stimme, die ich über etliche Jahre vernommen und erst seit Kurzem verloren hatte, einfach so vergessen konnte.

Yoko Ogawa - Insel der verlorenen Erinnerung

Universelles Thema, aktuell geblieben

„Die Insel der verlorenen Erinnerung“ stammt im Original von 1994. Was Yoko Ogawa zu diesem Buch damals inspiriert hat, weiß ich nicht. Doch kommt die deutsche Übersetzung zu einem Zeitpunkt, der dem Stoff eine hohe Aktualität verleiht. Ogawas Roman zeigt, dass irgendwann der Punkt kommt, an dem Gegenwehr zu spät kommt. Ist „die eigene Stimme“ vergessen, sind Erinnerungen manupuliert, ist es zu spät. Von den Leuten auf der Insel ist keine Gegenwehr mehr zu erwarten. In der Realität würde das ebenso wenig passieren.

Bibliografische Angaben

Verlag: Liebeskind
ISBN: 978-3-95438-122-7
Originaltitel: Hisoyaka na Kesshō / 密やかな結晶
Erstveröffentlichung: 1994
Deutsche Erstveröffentlichung: 2020
Übersetzung: Sabine Mangold

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2 Kommentare

Eli 13. Januar 2021 - 17:39

Die Thematik des Buches ist wirklich – teilweise sogar wortwörtlich – brandaktuell und sehr real. Der Roman klingt super spannend und ich werde ihn dieses Jahr definitiv noch lesen.

Antworten
Bettina Schnerr 14. Januar 2021 - 8:44

Hallo Eli,
viel Freude mit der Lektüre. Ogawa hat das Thema wirklich interessant aufgezogen, indem sie die Geschichte der Insel erzählt und über die Schriftstellerin parallel eine zweite Handlung einbindet, nämlich die des fiktiven Romans von ihr. Beide laufen aufeinander zu. Obwohl Ogawa gerne Realitäten verschwimmen lässt, erscheinen die Einflüsse der Repressionen, die in beiden Handlungen vorkommen, sehr real.
Viele Grüße
Bettina

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