… (mit Schreibtisch, Bücherstapeln und Papieren), in eine Küche mit leeren Arbeitsflächen und einem runden Holztisch.
Im ersten Absatz stecke ich nicht nur in einer Küche, sondern schon in einem Rätsel. Die Szene beginnt dort mit zwei Frauen, Harriet und Rose. So richtig klar ist die Szene allerdings nicht: Harriet denkt nach, Rose aber „staunte über den Zufall, gerade in dem Augenblick in Harriets Körper zu sein, in dem sie selbst beschrieben wurde.“ Na sowas, träumt hier jemand davon, jemand anders zu sein, jemand anderes aus dessen Körper heraus beobachten zu können oder beschreibt der Roman eine Welt, in der Körpertausch funktioniert?
Harriet jedenfalls ist jene, die „ist“. Die Küche scheint in einem viktorianischen Haus zu sein, Harriet schaut aus dem Fenster. Sie beobachtet die Straße, futtert Smarties, bis die Türglocke schellt. Bei den Smarties blieb ich hängen: Die holt Harriet aus einem Schrank, in dem außer diesen Bonbons und einer Flasche Senf nichts drin ist! Ich werde da ganz sicher neugierig, wenn ich von einem Küchenschrank höre, in dem außer Senf und Smarties nichts herumliegt. Meine Neugier ist angestachelt. Hängt das mit einem Umzug zusammen? Oder ist das ein Kunstgriff der Autorin, um Harriet einen bestimmten Charakterzug zu geben (oder einen zu unterstreichen, den andere Leser schon kennen)?
Heraus kommt auf diesen beiden Seiten nichts dazu, denn ein Mann kommt zu Besuch. „Ich bin’s.“ Harriet weiß, wen sie zu erwarten hat. Wirklich freuen tut sie sich nicht, dabei wird der Typ erst einmal ganz attraktiv beschrieben. Schnelle, leichte Schritte, „wie ein Adliger aus einem vergangenen Jahrhundert.“ Rose beobachtet die Szene weiter und hier geht’s um Liebeskummer bis zum Ende von Seite 99.
Der Mann ist mit Lesley zusammen, die ist hochschwanger. Gleichzeitig hat er was mit Harriet angefangen. Die ist inzwischen auch schwanger, er weiß es aber nicht. Der Mann ist das Problem an diesem Kuddelmuddel. Irgendwie von Lesley getrennt, aber doch nicht so ganz. Mit Harriet ein bisschen zusammen, aber auch nicht so ganz und die Wahrheit hat er wohl auch nicht so ganz gesagt. Also einer, scheint’s mir, der keine Entscheidung treffen mag. Das Bekannte nicht verlassen wollen, weil’s doch so bequem ist, dem tollen Neuen aber nicht ganz über den Weg trauen. Dann einfach beide Optionen offen halten, falls sich eine der Optionen von selbst erledigt, dann steht man nicht ganz ohne Alles da, falls man sich zuvor aus Versehen für die „falsche“ Variante entschieden hat. Vorurteil? Schnellschuss? Mag sein, aber so ein Bild gibt der Dialog der Seiten 98 und 99 eben her.
Es ist alles nicht so ganz klar, in diesem Fragment. Weder die Beziehungsverhältnisse, die auf den kommenden 130 Seiten sicher ausreichend sortiert werden. Das könnte interessant werden. Noch ist mir klar, was es mit Roses Beobachtungsposten auf sich hat. Hier verrät der Klappentext, dass Rose sich zeitweilig im Körper von Harriet wiederzufinden scheint. Was mir allerdings nicht viel hilft, denn wie es dazu kommt oder unter welchen Umständen es funktioniert, darüber werde ich nichts erfahren. Trotzdem: Page 99-Test bestanden.
Nichts in seinem oder Harriets Verhalten wies darauf hin,und tat- …
Das Buch
Barbara Gowdy – Kleine Schwester
Verlag: Kunstmann
ISBN: 978-3-95614-196-6
Originaltitel: Little Sister
Erstveröffentlichung: 2017
Deutsche Erstveröffentlichung: 2017
Übersetzung: Ulrike Becker
„Open the book to page ninety-nine and read, and the quality of the whole will be revealed to you.“
— Ford Madox Ford
Im angelsächsischen Raum kennt man den Page 99-Test gut; der Blog Page 99 Test widmet sich aussschließlich dieser Idee. Im deutschsprachigen Raum nutzt Tell das Ford’sche Konzept. Bleisatz erweitert auf zwei Seiten und nein, es ist keine Rezension. Es ist eine Momentaufnahme dessen, was ein Textfragement mit mir als Leserin macht — zu einem Zeitpunkt, an dem die Story fortgeschritten ist, die Personen längst eingeführt sind.