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Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister

Über Jahrhunderte prägte die bäuerliche Landwirtschaft das Leben und die Versorgung der Menschen. Ein Hof bot Selbstversorgung, war gleichzeitig aber auch mit harter Arbeit verbunden. Bauerntreffen wurden als Viehmärkte gestaltet und zum Austausch über Vorratshaltung und Hofbewirtschaftung genutzt. Doch vor allem den Sechzigerjahren wandelte sich das Bild — und das nicht nur rasant, sondern für eine so große Veränderung auch unglaublich still: Die herkömmliche Form der Landwirtschaft verschwand von der Bildfläche. „Ein Hof und elf Geschwister“ erzählt die Geschichte des Wandels als Familienportrait. Denn Autor Ewald Frie ist eines dieser elf Kinder, vom Frie-Hof in Nordrhein-Westfalen, zwischen Münster und Coesfeld. Am Beispiel seiner Familie zeigt er, wie der Wandel vor sich ging und wie er sich in seiner eigenen Familie abbildete.

Das Buch landete 2023 auf der Nominiertenliste vom Deutschen Sachbuchpreis.

Was ist mit der Verstädterung und der Bildungsexpansion verlorengegangen? Was haben wir mit dem gesellschaftlichen Wandel gewonnen? Dass Frie auf einfache Fragen nicht immer einfache Antworten gibt, zählt zu den Stärken dieses unterhaltsamen wie erkenntnisreichen Buchs.

aus der Jurybegründung zur Nominierung
Ewald Frie - Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben. Nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis 2023

In den Gesprächen, die Ewald Frie mit seinen Geschwistern führt, zeigt sich, dass noch in den 1950er Jahren die Höfe eigenständige Welten waren. Man kannte sich, besuchte einander, besprach die Arbeit. Doch schon „um ins Dorf zu fahren, musste es Gründe geben. Soziale Verbindungen gehörten … eher nicht dazu.“ Im Dorf gab es die Schule, die Post, den Arzt oder Handwerker. Dass sich der Kontakt ins Dorf sparsam gestaltete, hatte Fries Schilderungen zufolge hauptsächlich wohl zeitliche Gründe, denn „es gab immer was zu tun“. Von der Feld- und Stallarbeit über das Flicken bis zur Vorratshaltung wurden laufend alle Hände gebraucht. Und da der Hof Hilfskräfte beschäftigte, war immer Gesellschaft da.

„Das Überleben aller war vom Erfolg der Landwirtschaft abhängig.“

„Das bäuerliche Leben der Fünfzigerjahre scheint dem Mittelalter näher als unserer Zeit,“ schreibt der Verlag im Klappentext und tatsächlich scheint das Leben, das über Jahrhunderte hinweg nach sich wahrscheinlich wenig ändernden Regeln funktioniert hatte, unglaublich lange her zu sein. Dabei hat sich an der Grundlage unseres Lebens seither nichts geändert: Wir benötigen Lebensmittel und die kommen nach wie vor vom Acker. Und doch galten die stolzen Bauernfamilien, die mit ihren Erträgen sich selbst und die Region versorgten, innerhalb weniger Jahre plötzlich als rückständig.

Die bäuerliche Wirtschaft steht Kopf

Mit der Technisierung entfielen zahlreiche Arbeitsstunden, die zuvor notwendig waren, und der Bauernhof verlor seine Rolle als Arbeitgeber. Das hatte nicht nur Auswirkungen auf die Zeit, die den Kindern für Sportvereine oder sogar Bücher lesen zur Verfügung stand. Inzwischen konnte der Hof auch nicht mehr die Versorgung aller gewährleisten. Dass sich „Bildung“ als Karrierealternative entwickelte, war notwendig, um ein Einkommen abseits des Hofs zu erhalten. Wobei „Bildung“ (genau betrachtet) zunächst bedeutete, ein Wissen jenseits von dem zu bekommen, das für die Hofbewirtschaftung notwendig ist.

Die neue Arbeitsteilung hatte besonders starke Auswirkungen auf die Bauersfrauen. Heirat bedeutete für sie bislang immer die Übernahme unternehmerischer Verantwortung. Die Arbeit musste organisiert und verteilt und die Hofprodukte verkauft werden. Zum Kochen oder Backen gehörten nie nur die täglichen Mahlzeiten, sondern auch eine durchdachte Vorratshaltung. Bauersfrauen hatten in ihrem Zuständigkeitsbereich das Sagen — dazu gehörten unter anderem Melken, Hühnerhaltung und Vermarktung. Das wiederum bedeutete ein eigenes Einkommen. Mit dem Wandel entfiel die hofeigene Vermarktung aber zum Beispiel wegen großer Sammelzentren für Milch. Statt hofeigener Butter, die an fahrende Händler verkauft wurde, gab es die Butter von Verarbeitungszentren. Die Bauersfrau wurde ab den 1950er Jahren zur „Hausfrau“ und sollte die Kinder zum „Objekt ständiger Fürsorge“ machen.

Ist es Umstieg oder Aufstieg?

Bereits in den Siebzigerjahren ist die Welt auf dem Land eine völlig andere. War der Wandel zum Wohle aller und war es ein Aufstieg? Oder war es ein herber Verlust? Ewald Frie nimmt sich Zeit für die Antwort und wägt ab — umso besser gelingt das, nachdem er den Wandel detailliert mit seinen zahlreichen Facetten beschreiben konnte.

Für das Buch ist es nämlich ein echter Glücksgriff, dass Frie zwei wichtige Charakteristika mitbringt. Er ist einerseits Historiker und Professor mit einem Schwerpunkt für die neuere Geschichte Deutschlands. Andererseits ist er durch seine Familie mittendrin. Er und seine Geschwister bilden mit Geburtsjahrgängen zwischen 1944 und 1969 und den damit verbundenen Erfahrungen die Jahrzehnte der Veränderungen ab. Jede der elf Biografien für sich erzählt von einem einzelnen Leben – alle zusammen ergeben ein weitaus größeres Panorama. Frie unterhielt sich ausführlich mit jedem Geschwisterkind, um ihre Erfahrungen einzufangen.

„Nach dem Abitur gab er mir den Ratschlag, reich zu heiraten. Wahrscheinlich konnte er sich einfach keinen Ort vorstellen, an dem meine Fähigkeiten gebraucht würden.“

Ewald Frie über die Einschätzung seines Vaters

Obgleich die Familie Frie natürlich „Familie“ bleibt, entwickeln sich die Mitglieder in völlig unterschiedliche Welten. Je jünger die Geschwister sind, umso mehr entrückt ihnen die bäuerliche Welt der Eltern. Ewald macht mit seiner schulischen und später akademischen Karriere etwas, das für die Eltern außerhalb ihrer bewussten Lebenswelt liegt. Und doch erleben alle Kinder, dass den Eltern — vor allem der Mutter — eines klar ist: Die Kinder müssen ihren Weg außerhalb des Hofs gehen und dafür erhalten sie jede machbare Unterstützung.

„Ein Hof und elf Geschwister“ erzählt vom gegenseitigen Respekt, der zwischen den Generationen und den Lebenswelten liegt. Von einem grundlegenden Wandel, der eine jahrhundertealte Versorgung und ein Berufsbild innerhalb kürzester Zeit umgestellt hat und von einer Familie, die mittendrin ihren eigenen Weg aufbauen musste. Durch die persönliche Verbundenheit schafft Frie ein großartiges Sachbuch, das Wirtschaftsgeschichte auf eine beeindruckend unterhaltsame wie informative Weise erzählt — eine Familiengeschichte, die Dokument gesellschaftlicher Veränderung ist.


Fußball ist der Sport des Dorfes gewesen. Fußball vergesellschaftet auf eine eigene Weise, denn der beste ist nicht der, der das meiste Land hat, sondern im Fußball ist der am besten, der das Tor trifft. Das ist den Bauern zunächst mal suspekt.

Ewald Frie im Gespräch mit Bettina TietjEN auf die Frage, warum Bauern den Reitverein lange über den Sportverein stellten. Ewald Frie war das erste Kind der Familie, das Fußball spielen durfte

Bibliografische Angaben

Verlag: C.H. Beck
ISBN: 978-3-406-79717-0
Deutsche Erstveröffentlichung: 2023

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