An den Hitzesommer 2018 erinnere ich mich noch ziemlich gut. Wochenlang war es hier kochend heiß und da ich eine Woche direkt am Ufer des Bodensees verbrachte, konnte ich dem See täglich beim Schrumpfen zugucken. Wortwörtlich. Jeden Tag brauchte es etwas mehr Fußweg, bis man wirklich im Wasser war. Jeden Tag tauchten neue Steine oder Ankerplätze aus dem Wasser auf und einige Schiffsanlegestellen konnten überhaupt nicht mehr angefahren werden.
War dieser Sommer nun aber ein Sommer, der uns den Klimawandel drastisch vor Augen führte? Oder war es einfach nur ein ziemlich heißer Sommer?
Bislang galt es als schwierig, einzelne Wetterereignisse mit dem Klimawandel zu verknüpfen. Die Standardantwort lautet oft noch: Ein einzelnes Wetterereignis lasse sich nicht direkt mit dem Klimawandel in Verbindung bringen, übergeordnete Muster und Tendenzen hingegen schon. Inzwischen ist diese Antwort nicht mehr gültig. Ein klares Ja oder Nein ist absolut drin. Und das auf fundierter Datenbasis.
Das Handwerkszeug dafür liefert die Attribution Science, die von der Physikerin Friederike Otto miteinwickelt wurde. Im Buch, das sie gemeinsam mit dem Journalisten Benjamin von Brackel geschrieben hat, stellt sie die Entwicklung und Anwendung der Methode vor. Die Attribution Science ist vergleichsweise jung, aber bereits im Peer Review-Verfahren anerkannt.
Klimaforschung in Echtzeit
Die Wissenschaftler arbeiten international zusammen und untersuchen Extremwetterereignisse in Echtzeit. Ihre Analysen setzen sich einerseits zusammen aus aktuellen Wetterdaten und historischen Vergleichswerten. Sie bilden das reale Wetter ab. Ihnen gegenüber steht die Simulation einer Wetterlage, wie sie ohne Klimawandel zustande käme. Ein Vergleich beider Ergebnisse liefert fundierte Zahlen dafür, wie stark der Klimawandel ein Extremwetterereignis tatsächlich beeinflusst hat.
Gehen wir zurück zum Hitzesommer und dem schrumpfenden Bodensee: Eine Hitzewelle wie 2018 ist durch den Klimawandel mindestens doppelt so wahrscheinlich geworden.
Das weltweite Netz World Weather Attribution, zu dem auch Friederike Otto gehört, untersuchte in den letzten Jahren rund 190 Extremwetterereignisse, vom Hurrikan bis zur Dürre. Bei zwei Dritteln der Ereignisse führte der Klimawandel zu einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit, dass solche Ereignisse erneut und in kürzeren Abständen zueinander auftreten. Hurrikan Harvey beispielsweise, der 2017 wütete, brachte eine ungeahnte Menge Starkregen mit sich und setzte die Großstadt Houston regelrecht unter Wasser. Die Wahrscheinlichkeit, dass es wieder solchen Starkregen gibt, hat sich verdreifacht. Und während sich die Wahrscheinlichkeit einer Hitzewelle hier „nur“ verdoppelt hat, trifft es die Südeuropäer mit der zehnfachen Wahrscheinlichkeit.
Der Klimawandel ist gar nicht weit weg
Klimawandel ist erst interessant, sobald man selbst betroffen ist. Bisher schienen die Schäden aber weit weg. Otto macht in ihrem Buch klar, dass wir längst mittendrin sind. Die Zahlen, die die Attribution Science liefert, lassen sich nämlich ganz praktisch einsetzen:
Denn wenn sich Klimaschäden in ökonomische Schäden übersetzen lassen und damit allen klar ist, um welche Summen es sich handelt, setzt das Politiker*innen auf der ganzen Welt unter Druck, eine Lösung zu finden.
Solche Fakten liefern nicht nur die nötige Grundlage, überfällige politische und wirtschaftliche Entscheidungen zu Gunsten des Klimaschutzes anzuleiern. Sie liefern auch die Fakten, um sich besser vorzubereiten auf das, was sich mangels bisheriger Arbeit nun nicht abwenden lässt. Das kann regional zum Beispiel ein besserer Überschwemmungsschutz sein oder eine Rekultivierung von Brachflächen. Das können auch Rücklagen für den Notfall sein. In dem Jahr, in dem Houston im Wasser versank, waren zum Beispiel gerade erst die Mittel für den Katastrophenschutz gekürzt worden. Im Nachhinein gesehen eine fatale Entscheidung.
So viel Klima steckt im Wetter
Friederike Otto ist ein Aspekt sehr wichtig: Nicht jedes Extremwetterereignis hat mit dem Klimawandel zu tun. Zwar hat bei den bisher untersuchten Ereignissen zu zwei Dritteln der Klimawandel seine Finger im Spiel, bei einem Drittel aber nicht. Sie warnt daher davor, sich hinter dem Klimawandel zu verstecken, wenn doch handfeste Misswirtschaft vor Ort die Auswirkungen des Wetters verstärkt. Großflächige Rodungen oder die Kanalisierung von Gewässern können lokal schlimme Auswirkungen haben.
Die Attribution Science liefert, so Otto, das nötige Handwerkszeug, um jede Wettersituation sorgfältig und unvoreingenommen untersuchen zu können. Zugleich liefert die Methode das Handwerkszeug, um Politiker und Unternehmen gleichermaßen in die Verantwortung nehmen zu können. Egal, wie viel Klimawandel am Ende in einem Wetterereignis drin steckt. Besonders aufschlussreich ist es, wenn Forscherteams wie das von Otto ihre Ergebnisse liefern können, wenn das Wetterereignis noch in aller Munde ist. Somit liefert die Attribution Science ihre Auswertungen zu einem Zeitpunkt, an dem noch nichts vergessen ist.
In ihrem Buch schreibt sie verständlich und sehr anschaulich, wie die Attribution Science funktioniert, aber auch, wo ihre Grenzen sind (Tornados zum Beispiel). Dafür sind die Chancen, die sich mit der neuen Methode ergeben, ungleich wertvoller.
Bibliografische Angaben
Verlag: Ullstein
ISBN: 978-3-550-05092-3
Erstveröffentlichung: 2019
Bestellen bei genialokal.de* / buchhaus.ch* / osiander.de* / orellfuessli.ch* / medimops.de* / amazon.de* (*Affiliate-Links)