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Hideo Yokoyama – Six Four

Hideo Yokoyama – Six Four

Hideo Yokoyama - Six Four

Vierzehn Jahre ist es her, seit ein Kidnapper die kleine Shoko Amamiya entführt und 20 Millionen Yen Lösegeld erpresst hatte. Für die verzweifelten Eltern blieb das schlimmstmögliche Ende: Ihre Tochter wurde ermordet aufgefunden und der Täter von der Polizei nie gefasst.

Bei der damaligen Lösegeldübergabe war Yoshinobu Mikami mit dabei, der nach Jahren als Ermittler vor kurzem in die Presseabteilung der Polizei versetzt wurde. Bevor diese Entführung als ungelöst zu den Akten gelegt wird, will ein hochrangiger Beamter aus Toyko nochmals einen Kondolenzbesuch mit Pressebegleitung bei Familie Amamiya machen. Mikamis Aufgabe als Leiter der Presseabteilung ist es, den Besuch vorzubereiten. Doch im Fall „64“, wie er kurz genannt wird, steckt noch immer viel Potenzial für heftigen Ärger.

Mikami hat sieben Tage, um den Besuch auf die Beine zu stellen: Pressefragen bereitstellen, Amamiya vorbereiten, Routen und Zeitpläne erstellen. Aus der vermeintlichen Routine wird eine Tortour. Amamiya verweigert den Zutritt zum Hausaltar und muss überzeugt werden. Mikami glaubt, dafür den Hintergrund für dessen Abneigung gegenüber der Polizei kennen zu müssen. Also fängt er an, Fragen zum damaligen Ablauf zu stellen und kommt einigen Details auf die Spur, die die Behörde nach Kräften totschweigt. Ein so genanntes „Koda Memo“ spielt dabei offenbar eine große Rolle.

Pressearbeit unter Druck

Zugleich boykottiert die Presse die Zusammenarbeit mit der Polizei. Sie wollen den Besuch nicht begleiten. In Japan ist es üblich, dass ein Stamm fester Presseleute in einem Pressebüro direkt in der Polizeizentrale arbeiten und laufend über Ermittlungen informiert wird. Eine Information über einen Verkehrsunfall aber sorgt für Aufruhr, denn die Polizei hat Unfallfahrer und Opfer nicht namentlich genannt und eine anonyme Meldung wollen die Journalisten nicht akzeptieren. Da hilft auch der Hinweis nicht, die Frau sei schwanger und solle mit Presseberichten nicht zusätzlich belastet werden. Die Situation eskaliert, nachdem Mikamis Team versucht hat, die Gruppe mit individuellen Absprachen zu entzweien.

Das Buch spielt in jenen sieben Tagen, die Mikami für die Vorbereitungen bleiben. Das streikende Pressecorps und der verständlicherweise trotzige Amamiya machen daraus herzhaft Stress. Dabei hätte Mikami genug mit sich selbst und seiner Frau zu tun. Auch seine Tocher Ayumi ist verschwunden. Sie ist von zu Hause ausgerissen und wahrscheinlich am Leben. Allerdings weiß niemand etwas über ihren Verbleib. Genau diese Ungewissheit ist für die Eltern eine besondere Belastung. Ayumis Probleme mit Selbstakzeptanz sind in ihrer Ausprägung vielleicht recht japanisch, doch in ihren Grundlagen universell. Hinweise auf das häufige Mobbing gibt es keine. Aber es reicht aus, in einer Gesellschaft zu leben, die stark idealisiert und Frauen gegenüber eine große Erwartungshaltung pflegt.

Als Tochter eines Polizisten suchen praktisch die Kollegen des ganzen Landes für Mikami mit. Wird eine Mädchenleiche im passenden Alter gefunden, laden die Verantwortlichen grundsätzlich auch Mikami zu einer möglichen Identifizierung ein. Eine sicher unterstützend gemeinte Geste, gewiss aber auch wiederkehrender psychischer Stress für die Mikamis.

Ein kleiner Staat im Staat

Dieses Zusammenwirken unterschiedlicher Probleme klingt in einer solchen Zusammenstellung wie dieser vielleicht zu prall. Doch Hideo Yokoyama verknüpft die Stränge sehr geschickt und lebendig miteinander. Das Bild der japanischen Polizei ist das einer kleinen, eigenwilligen und abgeschotteten Organisation im Staat. Und das sieht an einigen Stellen gar nicht positiv aus. Aber diese Polizei ist im Innern ebenso ambivalent wie ihre Mitarbeiter, mit Karrieristen, Experten, Idealisten, Querdenkern und Mitläufern.

Die Pannen beim Fall 64 werden so massiv unter dem Deckel gehalten, dass zwei damalige Beteiligte kurz nach dem Kidnapping frustriert die Polizei verließen. Gleichzeitig toben innerhalb der Strukturen Machtkämpfe, die sich gewaschen haben. Die einzelnen Abteilungen können einander nicht leiden und den Sinn einer Presseabteilung verstehen die wenigsten. Viele sehen in Leuten, die Informationen nach außen geben, eher Verräter als Kollegen, die sich um eine sinnvolle und strukturierte Kommunikation mit Presse und Bevölkerung Gedanken machen.

Die Polizeimitarbeiter unterstützen einander sehr. Die ehemaligen weiblichen Kolleginnen unterhalten über das Berufsende hinaus ein enges Netzwerk, das gerade für Ayumis Mutter eine wichtige Hilfe ist. Mikami kann bei alten Kollegen anklopfen und Fragen stellen. Doch nach außen hin mauert die Polizei mehr als dass sie offen mit der Bevölkerung agiert. Da taucht schnell der Gedanke an Klüngelei auf. Gelegentlich kamen Erinnerungen an Arimasa Osawa hoch, der in seinen Krimis zwar einen großartigen Ermittler hat, die internen Strukturen aber auch alles andere als lobt.

Die englische Ausgabe hat 630 Seiten, die deutsche vom Atrium Verlag 770. Hunderte von Seiten, die sich wegen ihrer packenden Story allerdings lohnen. Ab einem gewissen Punkt war es praktisch unmöglich, das Buch aus der Hand zu legen und 64 wird hier in die Regale einziehen als eines jener Bücher, die mich praktisch unansprechbar gemacht haben.

Bibliografische Angaben

Verlag: riverrun
ISBN: 978-1-84866-528-6
Originaltitel: 64 (Rokuyon) / 64 (ロクヨン)
Erstveröffentlichung: 2012
Englische Erstveröffentlichung: 2016
Übersetzung: Jonathan Lloyd-Davies

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