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Yoko Ogawa – Der Duft von Eis

Yoko Ogawa – Der Duft von Eis

Yoko Ogawa - Der Duft von Eis

Die junge Ryoko wähnt sich mit ihrem Lebensgefährten Hiroyuki auf bestem Weg, gemeinsam durchs Leben zu gehen. Hiroyuki hat ein unglaubliches Talent als Parfümeur und kreiert sogar einen eigenen Duft für Ryoko. Er nennt ihn „Quell der Erinnerung“. Doch Hiroyuki trinkt kurz darauf reines Ethanol und stirbt. Sie lernt bei den Trauerzeremonien seinen Bruder Akira kennen und stellt fest, dass Hiroyuki ein ganz anderer Mensch gewesen sein muss als der, den sie kennengelernt hat. Ihr Freund beherrschte unter anderem das Eiskunstlaufen und konnte selbst mit verbundenen Augen Muster fehlerfrei fahren. Als Jugendlicher war er regelmäßig an Mathematikwettbewerben beteiligt und in seinem Elternhaus gibt es ganzes Zimmer voller Pokale, so erfolgreich war er. Als Reiko, die Chefin der Parfümerie, den beiden Hiroyukis Lebenslauf aus der Bewerbung zeigt, gibt es noch mehr Dinge, die sie verwundern. Von den Angaben dort stimmt praktisch keine.

Für den rätselhaften Lebenslauf hat Ryoko nur zwei Hinweise. Das eine ist ein Mathematikwettbewerb in Prag, für den Hiroyuki als Teenager erstmals gemeinsam mit seiner Mutter Japan verlassen hatte (so etwas wie der Naboj zum Beispiel). Akira zufolge war danach nichts mehr wie zuvor. Hiroyuki verließ das Elternhaus eines Tages ganz einfach. Das andere ist ein merkwürdig klingendes Gedicht zu Grotten, zugefrorenen Seen und Samt, das Akira und Ryoko im Nachlass finden. Ryoko reist also nach Prag, denn Reiko zufolge sind Assoziationen zu Gerüchen tief mit dem Erinnerungsvermögen einer Person verknüpft.

Seit unserer ersten Begegnung kannte ich den Unterschied zwischen einer Welt mit ihm und einer Welt ohne ihn.

Wer war Hiroyuki?

Yoko Ogawa wirft ein Thema auf, das mehrfach ganze Bücher antreibt. Im Japan-Schwerpunkt war das zum Beispiel bei Keiichiro Hirano, Kanae Minato oder Clarissa Goenawan der Fall. Wie gut kennen wir eine Person wirklich, mit der wir lange zu tun hatten? Akira lernt, was Hiroyuki nach seiner Flucht aus dem Elternhaus erlebt hat und Ryoko erfährt mehr aus der Kindheit, über die sie ihrerseits völlig im Unklaren war. Hiroyuki schien ein fast perfekter Mensch gewesen zu sein, der überall, wo er vorbeikam, Gutes und Richtiges tat. Zugleich redete er nie über solche Erfolge und erfand sich offenbar in jedem Lebensabschnitt neu.

Trotzdem bleibt Hiroyuki nicht greifbar. Yoko Ogawa spart die Persönlichkeit Hiroyukis weitestgehend aus und lässt Hinterbliebene und Leserschaft im Unklaren über Hiroyukis Motive. Ihr Augenmerk gilt den Roman über den Erinnerungen und der Trauer von Ryoko. Und die geraten nicht weniger rätselhaft.

Ein kleines Prager Märchen

Ryoko reist also nach Prag, fünfzehn Jahre nach dem Mathematikwettbewerb. Als Reisebegleiter steht ihr Jeniak zur Seite, leider nicht der Japanisch sprechende Fremdenführer, um den sie das Reisebüro gebeten hatte. Mit ihm durchquert sie die Stadt auf Spurensuche. Prag wird einige Überraschungen bereit halten und verschiedene Entdeckungen erklären zum Beispiel Hiroyukis Gedicht. Andere Begegnungen zaubern Ryoko ins Reich der Märchen und sie findet einen Ort, der sich nach Bedarf zu „verstecken“ scheint und den sie nur in Begleitung von Jeniak findet. Dort wimmelt es von Pfauen, den „Boten des Gottes der Erinnerung“, wie Hiroyuki einst erklärt hat. Ein Pfau ziert auch den Flakon des Parfüms, das er Ryoko geschenkt hatte.

Dieses Märchenhafte, das vor allem Prag, aber auch einigen Szenen in Japan anhaftet, ist atmopshärisch und stimmungsvoll gezeichnet. Das ist etwas, was Ogawa erzählerisch aus dem Effeff beherrscht. Doch die Fäden, die sie zwischen Toyko, Hiroyukis Heimat Okayama und Prag spinnt, scheint am Ende einzig Ryoko zusammenknüpfen zu können. Als Leserin fühle ich mich alleine gelassen, denn warum Hiroyuki sich ständig neu erfunden hatte, bleibt offen. Die Pfauen-Episoden bleiben im Netz der Fäden ebenso undefinierbar wie Hiroyukis Lebenslauf und seine Persönlichkeit. So bleibt am Ende ein Buch über das persönliche Erinnern Ryokos übrig, das für meinen Geschmack ein wenig viel luftleeren Raum für Interpretationen lässt.

Bibliografische Angaben

Verlag: Liebeskind
ISBN: 978-3-95438-150-0
Originaltitel: 凍りついた香り (Kooritsuita Kaori)
Erstveröffentlichung: 1998
Deutsche Erstveröffentlichung: 2022
Übersetzung: Sabine Mangold

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