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Kanae Minato – Schuldig

Kanae Minato – Schuldig

Fünf Studenten verabreden sich in einem kleinen Bergdorf für ein paar Tage Auszeit. Sie fahren zu viert, weil Murai wegen eines Unfalls nachkommen muss. Als er nachts am Bahnhof eintrifft, soll ihn einer der vier anderen abholen. Doch nur zwei haben einen Führerschein und beide haben ein wenig getrunken. Hirosawa setzt sich an Steuer und macht sich auf den Weg, im Regen die Serpentinenstraße hinab.

Drei Jahre später erhalten die vier Freunde Tanihara, Fukase, Asami und Murai in verschiedener Form Briefe, in denen sie als Mörder beschimpft werden. Sie setzen sich miteinander in Verbindung, um dem Verfasser auf die Spur zu kommen. Doch viel mehr als Vermutungen haben sie nicht. Hirosawa war damals auf der Straße bergab tödlich verunglückt, aber mit dessen Familie besteht seither ein eigentlich freundlicher Kontakt und sie werden zu Erinnerungsfesten eingeladen. Dass überhaupt ein Unfall wüste Beschimpfungen auslöst, verwundert sie sehr.

Ansonsten wissen sie über Hirosawa und sein Umfeld allerdings nicht sehr viel, wie sie feststellen. Sie tragen ihre wenigen Erkenntnisse zusammen und Fukase erklärt sich daraufhin bereit, dem Leben des verstorbenen Freundes nachzuspüren. Nicht nur, um hoffentlich den Briefeschreiber zu finden, sondern um auch herauszufinden, was für ein Mensch Hirosawa eigentlich war.

So viel Ungesagtes

Fukase, aus dessen Perspektive Kanae Minato das Buch erzählt, ist ein zurückhaltender Mensch, der sich für weitaus langweiliger hält, als er vermutlich ist. Er glaubt, dass andere deshalb bewusst auf seine Gesellschaft verzichteten. Seinem Selbstbewusstsein hat das alles andere als geholfen. Die Highlights in Fukases Tagen spielen sich beim Kaffee brühen ab. Seit er das Café Clover entdeckt hat, begeistert er sich für unterschiedliche Bohnen und Röstungen. Er probiert Variationen mit Bohnenmischungen oder Honigsorten, um das Aroma zu verfeinern. Und er genießt es, wenn er seine Kollegen im Büro mit handgebrühtem Kaffee verwöhnen kann.

Umso frustrierter reagiert Fukase, als er seine „Wissenslücken“ über Hirosawa bemerkt. Da ist ein junger Mann gestorben, den er als seinen besten Freund bezeichnet hat und doch muss er feststellen, dass er eigentlich viel zu wenig über ihn weiß. Genau genommen geht es allen vier Freunden so. Jeder weiß ein bisschen, je nachdem, welche Überschneidungspunkte sie hatten.

Fukase und Hirosawa verbrachten ihre Zeit gerne miteinander, redeten dabei aber wenig über Persönliches. Kanae Minato spielt hier mit zwei Aspekten, die eine Freundschaft ausmachen können, aber eben nicht zwingend müssen. Man kann schlicht und einfach die Gesellschaft des anderen genießen. Man kann sich intensiv austauschen, erzählen und abstimmen. Beides muss nicht zusammenhängen.

Und trotzdem schwingt in „Schuldig“ ein kritischer Unterton mit. Nicht alle Freundschaften, die im Buch auftauchen, basieren auf dieser stillen Harmonie. Viele Beziehungen bleiben oberflächlich, bestehen vielleicht aus der Verpflichtung heraus, dass Weggefährten der jeweiligen Schulphasen miteinander in Kontakt bleiben sollten. Hier scheinen nicht einmal Pärchen besonders viel miteinander zu reden. Wo sind die Grenzen zwischen Ungesagtem und Unterdrücktem?

Hirosawa neu sehen

Durch die Recherchen versteht nicht nur der suchende Fukase immer besser, wie er selbst lebt und fühlt und Freundschaften versteht. Stückweise entsteht auch ein Bild von Hirosawa. Dabei wird deutlich, dass ihn niemand in Gänze kannte. Die jeweiligen Facetten entstanden passend zum Freundeskreis und auch die Familie wusste nicht alles. Hirosawa hatte beispielsweise ein Auslandsjahr geplant, von dem einige wussten. Doch wird ebenso klar, dass niemand wusste, wo Hirosawa eigentlich hinwollte.

Der Roman befasst sich natürlich auch mit Schuld und Verantwortung. Kanae Minato nimmt dabei nie eine Wertung vor, sondern zeigt vielmehr, dass die Grenzen zwischen Einordnungen wie Pech, Unglück, Mitverantwortung oder Schuld fließend verlaufen. Sie sind weniger gesellschaftlicher Maßstab als oft genug persönliche Wahrnehmung. Manche Menschen können mit einem Unglück mit diffuser Ursache umgehen; andere brauchen unbedingt einen Schuldigen, den sie zur Verantwortung ziehen können.

Die Schichtung des Romans führt Stück für Stück Richtung Aufklärung, ohne dass zuvor jene Richtung klar gewesen wäre. Zugleich spielt am Ende der Zufall eine große Rolle, einer, der hätte eintreffen können oder auch nicht. Und er entlässt Leserinnen und Leser mit der Frage, wo ihre Grenzen fließen.

Kanae Minato - Schuldig

Bibliografische Angaben

Verlag: C. Bertelsmann
ISBN: 978-3-570-10367-8
Originaltitel: Reverse (リバース)
Erstveröffentlichung: 2015/2017
Deutsche Erstveröffentlichung: 2019
Übersetzung: Sabine Mangold


リバース wurde in Japan zunächst als Fortsetzungsroman zwischen November 2013 und Dezember 2014 in einer Zeitschrift veröffentlicht. 2015 folgte das Buch, 2017 die Taschenbuchversion.

2017 wurde der Roman zur Grundlage einer Verfilmung und inzwischen gibt es von Kanae Minato auch eine Fortsetzung der Originalgeschichte (リバース・それから / Reverse・danach).

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